Im Schmerz der Erinnerungen

Der Bürgerkrieg in Syrien fordert immer mehr Opfer. Dabei hegten viele Menschen bis zum Jahr 2011 Hoffnungen auf Reformen. Ein persönlicher Rückblick.

In Frage gestellt oder etwa angezweifelt wurde das Trio nie. Baschar al-Assad hing neben Jesus von Nazaret hing neben einem dunkelhaarigen Pin-up-Girl. Sie leisteten dem syrischen Goldschmied Haitham in seiner Werkstatt in der Damaszener Altstadt Gesellschaft. Die Fotografien an der spröden, in Neonlicht getauchten Wand, die vor vielen Jahren einmal weiß gewesen sein muss, genossen eine Selbstverständlichkeit, die Besucher aus dem Westen zum Staunen brachte.

Assads Poster war etwas ranzig an den Ecken, Jesus hatte auch schon einige Jahre seinen Platz neben der Nackten behauptet. Bleich wirkte der Messias. Haitham rauchte, wie ein richtiger syrischer Mann eben raucht. Vor allem viel. Und Tee trank er. Ich trank mein Gläschen jeden Tag nach der Universität auf einem der Schemel unter Haithams Trio. Aber wo in der Stadt klebte nicht Präsident Assad? Das war Ende 2008. Syrien schien im Aufbruch.

Während eines mehrmonatigen Aufenthalts lebte ich in einer von Haithams Wohnungen, die sich genauso wie die Werkstatt um einen Innenhof mitsamt ausgetrocknetem Brunnen legten. Das Gebäude befindet sich nicht weit entfernt von der so berühmten wie alten Umayyaden-Moschee. Es ist diese Moschee, in der Papst Johannes Paul II. am Schrein Johannes des Täufers betete und damit ein bedeutendes Zeichen für die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Islam setzte. Sie liegt nicht weit entfernt von der Al-Imam-Moschee.

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Im März 2013 melden die Agenturen:

Eine Anschlagserie mit mehr als 70 Toten hat die syrische Hauptstadt erschüttert. Bei einem Anschlag in der Imam-Moschee waren 49 Zivilisten und der Attentäter ums Leben gekommen. Zu der Tat, die auch bei vielen syrischen Oppositionellen Empörung auslöste, bekannte sich zunächst niemand. Das syrische Außenministerium machte die Terrororganisation Al Kaida und ihre Verbündeten verantwortlich. Mit einer offiziellen Trauerfeier in der Umayyaden-Moschee will Syriens Regime der Opfer gedenken.“

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Um die Umayyaden-Moschee, in deren Innenhof der Marmorboden so glatt und blank poliert daherkam wie wohl nirgends in der Stadt ein anderer, liegt der Souk. Salah hörte immer besonders laut den Muezzin zum Gebet ausrufen. Er war Händler, gleich in der ersten Reihe vor der Moschee stand er und versuchte, Tischdecken, Vorhänge und allerlei andere Stoffwaren loszuwerden. Seine arabische Gastfreundschaft erlaubte mir, regelmäßig bei ihm zu essen – Bohnen, genannt Ful, den typischen Petersiliensalat Taboulé oder Hummus. Ob Salah trotz der zunehmenden Gewalt in der Altstadt seinen Stand auf dem Souk täglich öffnet?

Salah ist Sunnit – wie die Mehrheit in Syrien. Er rühmte oft das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Konfessionen. Das mache Damaskus so besonders. „Ich bin stolz, hier zu leben“, sagte er dann. Und bedauerte gleichwohl, dass es kaum mehr Juden in der Stadt gebe. Dass es noch immer ein jüdisches Viertel gibt, zeigt, dass dies mal anders war. Den Grund dafür, warum die für ihn bereichernde Koexistenz von Sunniten, Maroniten, Alawiten, Drusen, Syrisch-Orthodoxen oder Griechisch-Katholischen funktionierte, suchte er auch bei der Regierung. Manchmal fand er ihn da, meistens aber in der Mentalität der Syrer. Er war kein glühender Anhänger Assads und klagte oft über den Terror vergangener Tage. Trotzdem prophezeite Salah seinem Land eine gute Zukunft. Immer mehr Touristen besuchten Syrien. Das Land schien sich zu öffnen, dessen lange und vielseitige Geschichte lockte zunehmend Gäste aus Europa und den USA an. Mitunter blieben sie sogar länger, um an der Universität Arabisch zu studieren. Wie ich.

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Im März 2013 melden die Agenturen:

Mindestens zwölf Menschen sind auf dem Campus der Universität von Damaskus durch Mörsergranaten getötet worden. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad sprach von einem Terrorangriff und machte Rebellen für den Beschuss verantwortlich. Das syrische Beobachtungszentrum für Menschenrechte in London berichtete hingegen, Regierungstruppen hätten nahe Damaskus Rebellengebiete angegriffen.“

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Der Goldschmied Haitham ist Christ, syrisch-orthodox. Er betonte immer, wie „sehr religiös“ er ist. In der Kirche hat man den Mann mit dem goldenen Kreuz um den Hals derweil selten gesehen. Baschar al-Assad wurde in den verwinkelten Gassen der Altstadt auch fast zehn Jahre nach seiner Machtübernahme noch immer von vielen als Hoffnungsträger bezeichnet. Auch von Haitham. Er habe viele starre Gesetzesgurte gelockert und eigentlich wolle er weitere Reformen, wären da nicht die despotischen Gefolgsleute aus Zeiten seines Vaters. Die Hoffnung ist schon lange durch Panzer und Heckenschützen zerstört. Doch damals herrschte Zuversicht in Bab Tuma – einem hauptsächlich von Christen bewohnten Viertel, in dem die meisten Bewohner als regierungstreu galten und gelten. Am Platz mit jenem Stadttor, das dem Viertel seinen Namen Bab Tuma gab, stand die Polizeistation – ein beliebter Treffpunkt für Freunde und verliebte Pärchen.

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Im Oktober 2012 melden die Agenturen:

In Damaskus starben mindestens zehn Menschen bei der Explosion einer Autobombe im Christenviertel Bab Tuma. Sie detonierte vor einer Polizeistation. Mindestens 13 Menschen starben, es gab Dutzende Verletzte.“

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In einem Internetcafé der Altstadt entdeckte ich durch Zufall eines meiner zahlreichen Passbilder, die wie Fingerabdrücke den Weg von Ausländern nachzeichneten und überall gefordert wurden. Zwei für den Wohnungsbesitzer, eins fürs Visum, zwei für die Universitäts-Einschreibung, eins für die Visumsverlängerung und so weiter. Zwar hatte ich nie in einem Internetcafé ein Foto hinterlassen, aber wohl mein Vermieter. Der Geheimdienst spitzte überall seine Ohren. Wer zu Assads Spitzeln gehörte? Es hätte jeder sein können.

Ronak, eine kurdische Freundin, die in Damaskus studierte, pfiff auf den Passfoto-Wahnsinn der syrischen Regierung. Viel lieber surfte sie im eigentlich gesperrten sozialen Netzwerk Facebook. Jeder machte das – es waren die kleinen Siege des Alltags. Ronak kam aus dem Norden Syriens und wohnte, weit weg von ihrer Familie, mit ihrem Freund aus Norwegen zusammen. Ihr Vater wusste davon nichts. Er durfte auch nichts wissen. Die Gesellschaft ist konservativ, egal welche Religion auf dem Pass steht. Die Kurdin mochte Assad nicht, aber gab es eine Alternative? Irgendwie lebten sie doch gut, hatten Jobs, konnten studieren. Auf dem Land sei die Lage eine andere, sagte sie oft. Und wusste, wovon sie redete. Sie wuchs in einem kleinen Dorf nahe der türkischen Grenze auf, wo die Leute unzufriedener, ärmer, perspektivloser durchs Leben gingen.

Auf dem Land begann vor mehr als zwei Jahren der Aufstand gegen Baschar al-Assad. Mittlerweile lebt Ronak in Kairo, geflüchtet vor der Gewalt in ihrem Heimatland. Dort setzt sie sich mittels journalistischer Blogs für ein Syrien ohne Assad ein.

Regierungsgleichgültig waren Ende 2009 einige Christen und Muslime, unpolitisch noch viele mehr. 2013 geht dagegen die Angst um – vor Assads Schergen, vor den Rebellen, vor Islamisten. Die Gewaltorgie weitet sich aus und hinterlässt ein Volk in Trauer.

Aus dem schwedischen Göteborg beobachtet Yarosh die schrecklichen Geschehnisse. Die Syrerin wuchs in Homs auf, der drittgrößten Stadt des Landes, studierte da und arbeitete ab 2008 in ihrer Geburtsstadt als Englischlehrerin. Homs war eine Industriestadt, unscheinbar dazu – aber eine, in der es sich trotz mangelnden Charmes gut leben ließ.

Das größte Problem für Yarosh damals war, einen Mann zu finden – trotz attraktiven Aussehens und Uni-Diplom. Oder deshalb? Sie war eine selbstbewusste Frau Mitte 20, die sich nicht vorschreiben lassen wollte, wen sie zu heiraten hatte. Sie bewunderte und beneidete die Freiheiten der Frauen im Westen und lauschte ungläubig den Erzählungen aus Deutschland. Dort lag ihr Paradies, doch die Regierung hatte etwas dagegen. Ein Visum zu bekommen glich einem Sechser im Lotto. Doch 2009, vor Ausbruch der Proteste, erreichte sie ihr Ziel ohne Assads Hilfe. Sie heiratete einen in Schweden aufgewachsenen Syrer, der die Brautschau ins Land seiner Eltern verlagerte. Yarosh ging, ihre Familie blieb.

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Im Februar 2012 melden die Agenturen:

Aus der Protesthochburg Homs wird das schlimmste Blutbad seit Beginn der Proteste gemeldet. Hunderte Menschen sterben.“

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Mittlerweile lebt neben dem Bruder auch die Mutter von Yarosh in Schweden. Der blutige Wahnsinn des Tötens verfolgt die ältere Frau bis nach Europa. Tage- und nächtelang schaut sie Nachrichtensendungen in einer Sprache, die sie nicht versteht. Aber in welcher Sprache ist das Grauen in Syrien schon verständlich? In dem Stadtviertel, das sie Heimat nannte, liegt das Fensterglas der verlassenen, teils geplünderten Häuser in Splittern auf den menschenleeren Straßen. Bomben haben Homs zu einem zerstörten Leichenhaus werden lassen. Einer von Yaroshs Freunden ist tot, gestorben beim Versuch, anderen Kriegsopfern zu helfen, erzählt die Auswanderin. Ein ehemaliger Kollege sei während einer Demonstration gegen Assad getötet worden. Yaroshs Verwandte sind geflüchtet, nach Damaskus, Jordanien, in den Libanon oder in die Vororte von Homs. Dort mangelt es zwar an Elektrizität und Essen, aber Flieger werfen seltener ihre Bomben ab.

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Im April 2013 melden die Agenturen:

Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats UNHCR sind in den Nachbarländern Syriens und in Ägypten inzwischen mehr als 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge registriert. Damit wäre mindestens ein Viertel von gut 20 Millionen Syrern, die zuletzt im Land lebten, auf der Flucht. In Syrien befinden sie sich vielerorts in Lebensgefahr.“

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Wie Yarosh haben viele ihr Zuhause verloren. Andere haben im Kampf um Freiheit ihr Leben gelassen. „Wir hoffen, dass es nicht umsonst war“, sagt Yarosh, die stolz darauf ist, wie sich ihre Landsleute für ein neues Syrien einsetzen. Beharrlich. Selbstlos. Solidarisch. „Für unsere Kinder und die nachfolgende Generation sind wir bereit, diesen Preis zu bezahlen.“ Er ist hoch. Und wird von vielen Unschuldigen bezahlt.

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Gerade melden die Agenturen: 

Der zweijährige Bürgerkrieg in Syrien hat nach UN-Schätzungen inzwischen mehr als 70 000 Menschen das Leben gekostet. Fast fünf Millionen sind auf der Flucht.“

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Von Freunden bekam ich bei meiner Abreise einen Küchenmagneten geschenkt, auf dem die Familie Assad für den Fotografen posiert. Hinter dem 2000 verstorbenen Hafiz al-Assad und seiner Frau stehen Baschar und seine Geschwister. Dieser Mann auf dem jahrzehntealten Bild, zweiter von links, Anzug und Krawatte, Oberlippenbart, lässt sein Volk abschlachten und lädt Extremisten dazu ein, sich auszubreiten wie ein tödlicher Virus. Assad wirft Syrien um Jahrzehnte zurück und hat dabei ein Publikum, das größer nicht sein könnte: die ganze Welt.

Kurz vor Weihnachten 2008 schien es kaum ein Souvenir zu geben, das treffender an das Stadtbild von Damaskus und den damaligen Alltag erinnert hätte als der Magnet. Es war ein unschuldiges Geschenk. Und irgendwie witzig.

Vor einiger Zeit habe ich ihn weggeworfen. 

 
Der Beitrag erschien am 18. April 2013 im SÜDKURIER

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