„Es gibt nur den Begriff Lebenszeit“

Götz W. Werner, dm-Gründer und -Aufsichtsratsmitglied, spricht über sein Leben als Unternehmer, die Schlecker-Pleite und die Zeiten am Bodensee.

Sie gelten als Popstar unter den Unternehmern. Woran liegt das?
Das sagen Sie. Mir geht es darum, die Dinge zu hinterfragen und neu zu denken. Das kann sich jeder Mensch aneignen. Als Vater von sieben Kindern konnte ich die Voraussetzungslosigkeit und Aufgeschlossenheit beobachten, mit der Kinder auf die Welt zugehen. Das ist beeindruckend.

Müssen Sie sich da selbst immer daran erinnern?
Es ist gut, wenn man sich jeden Morgen einen imaginären Tritt in den Hintern gibt und sagt: Heute schiebst du alle deine Vorurteile zur Seite und gehst auf die Dinge voraussetzungslos zu.

Was hat Sie als Unternehmer geprägt?
Viele kleine Dinge, aber vor allem die Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Es gibt drei Arten von Beziehungen. Zu Kunden, die Zahncreme brauchen und bei uns einkaufen. Zweitens die Kunden, die bei uns tätig sind, weil sie eine Lebensaufgabe suchen – die Mitarbeiter. Und drittens die, die für uns tätig sind – die Partner. Ein Unternehmen ist auf den Beitrag dieser Menschen angewiesen. Entscheidend ist, mit den Augen der Kunden auf das Unternehmen zu schauen. Je besser mir das gelingt, desto eher habe ich zündende Ideen.

Ihre Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen provoziert Aufsehen. 1000 Euro vom Staat für jeden, egal ob Baby oder Ruheständler.
Das Grundeinkommen provoziert nur bei den Menschen Aufsehen, die sich noch nicht damit beschäftigt haben. Denn für das schiere Leben benötigt man ein Einkommen. Deswegen ist das Einkommen eine Voraussetzung, um leben zu können. Einkommen ist die Ermöglichung von Arbeit – anders als früher, als sich die Menschen noch selbst versorgt haben. Damals war der Ertrag vom eigenen Feld die Folge der Arbeit. Heute brauchen wir die Arbeit, weil wir uns entwickeln wollen. Der Mensch ist ein Tätigkeitswesen. Wir brauchen die Arbeit, um über uns hinauszuwachsen. Das Einkommen, um zu leben.

Was macht der Staat mit jenen, die nicht arbeiten wollen?
Erstens sind das wenige. Zweitens muss es die Gemeinschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft ertragen, dass es Menschen gibt, die unfähig sind, sich in die Sozialität zu integrieren. Ein Mensch, der sich nicht einbringen kann, ist nicht faul, sondern krank. Er hat eine soziale Behinderung und braucht Hilfe, beispielsweise in Form von Sozialarbeit.

Würden mit dem Grundeinkommen genauso viele arbeiten wie jetzt?
Es würden mehr Menschen arbeiten. Mit einem Grundeinkommen trennen wir Arbeit und Einkommen ein Stück voneinander. Mit 1000 Euro im Monat kann man sich fragen, was man machen will, nicht, was man machen muss. Diese Verwandlung vom Sollen zum Wollen würde unsere Gesellschaft dramatisch verändern, wie die Kopernikanische Wende.

Kritiker fragen: Wer soll das bezahlen?
Ja, Kritiker haben selten Fantasie.

Sie haben Fantasie?
Ich brauche keine Fantasie, ich kann es Ihnen beweisen. Es ist schon bezahlt. Wir leben ja nicht vom Geld, wir leben von den Gütern. Die Frage ist: Haben wir genügend Güter und Dienstleistungen, um 82 Millionen Menschen zu versorgen? Ja. Es ist ein Denkfehler, vom Geld auszugehen. Die Güter ziehen das Geld nach sich. Alles, was produziert werden kann, ist auch finanzierbar.

Sie glauben an das Gute im Menschen. Manche würden das als naiv abtun.
Als 32-Jähriger, damals war ich drei Jahre als Unternehmer tätig, hat mich meine Großmutter mit Blick auf die Unternehmensgröße gefragt: ‚Du Götz, bei so vielen Menschen, beklauen die dich nicht alle?’ Ich habe ihr spontan geantwortet: ‚Großmutti, mach dir keine Sorgen, einer ist besser als der andere.’ Sie können in einer Gesellschaft, in der alle aufeinander angewiesen sind, nichts machen, wenn Sie dem anderen immer unterstellen, dass er Schlechtes will. Dieses ‚Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser’ ist ein Denkirrtum – mit dieser Haltung könnten Sie nicht einmal mehr Fahrstuhl fahren. Sie müssen anderen Menschen immer etwas zutrauen.

Mit der Einstellung mussten Sie aber viele Enttäuschungen ertragen, oder?
Nein. Jeden Tag kommen 1,4 Millionen Kunden deutschlandweit in unsere dm-Märkte. Stellen Sie sich mal vor, ich würde davon ausgehen, dass alle stehlen. Dann müsste ich die Läden sofort zumachen. Unsere arbeitsteilige Gesellschaft beruht darauf, dass das wechselseitige Zutrauen zu 99 Prozent erfüllt wird.

Sie sind mit Ihrer Lehre zum Drogisten in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten. Wenn es damals schon das bedingungs- lose Grundeinkommen gegeben hätte, was hätten Sie gemacht?
Wahrscheinlich das gleiche. Ich habe mir schon als Sechsjähriger einen weißen Kittel gewünscht, in dem ich dann in der Drogerie meines Vaters rumgelaufen bin.

Sie haben einmal Victor Hugo zitiert: „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Ist die Zeit für das Grundeinkommen reif?
Ja. Wir können täglich beobachten, dass wir mit dem gegebenen Strickmuster nicht weitermachen können. Dass wir in einer Situation sind, in der wir uns unvernünftig verhalten. Wir leisten uns zum Beispiel Armut, obwohl wir noch nie so viele Güter und Dienstleistungen hervorgebracht haben wie heute.

Warum kämpfen Sie für die Freiheit jedes Einzelnen?
Das ist ein kulturelles, gesellschaftliches Lebensziel. Je größer der Freiheitsraum eines Menschen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Eigeninitiative entfaltet. Das erlebe ich ständig. Wir haben mehr als 2500 Filialen in Europa, die nur laufen können, weil die Menschen dort die Dinge aus freiem Antrieb machen. Ich habe sehr bald bemerkt, dass man einen Filialbetrieb nur entwickeln kann, wenn Initiative vor Ort ergriffen wird. Und damit Initiative ergriffen wird, darf es keine Anweisungen geben.

Fühlen Sie sich von der Linken repräsentiert? Deren stellvertretende Parteivorsitzende Katja Kipping ist Verfechterin vom Grundeinkommen.
Die Idee vom Grundeinkommen geht durch alle Parteien. Es gibt keine Partei, die sich nicht damit beschäftigt, vornehmlich an der Basis. Das ist wie in Unternehmen. Bevor der Vorstand versteht, was neu gemacht werden muss, wissen die Mitarbeiter an der Basis längst, dass es so nicht weitergeht. Katja Kipping ist in ihrer Partei übrigens ziemlich isoliert mit dieser Idee.

Warum gehen Sie nicht in die Politik?
Weil die Politik nichts verändert, sie reagiert nur auf sich anbahnende Veränderungen. Der Wind der Veränderung weht aus der Gesellschaft. Der Politiker macht eigentlich nichts anderes als der Segler am Bodensee: Er macht den Finger nass, hebt ihn in die Luft und sagt: „Halt mal, wo kommen die neuen Winde her?“ Entsprechend justiert er sein Parteiprogramm.

Leben wir denn in einer gerechten Welt in Deutschland, in Europa?
Gerecht ist, wenn wir Verhältnisse schaffen, in denen sich Menschen entwickeln können. Das Dilemma ist heute, dass junge Menschen von der Frage geleitet werden: Was soll ich studieren, damit ich später am meisten verdienen kann? Sie fragen sich nicht, worin ihr Interesse liegt. Das wäre mit einem Grundeinkommen anders. Viele Menschen sind in einem persönlichen, seelischen Dilemma, weil sie nur einen Einkommens- und keinen Arbeitsplatz haben. Wir trennen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Die beiden Begriffe müsste man abschaffen. Es gibt nur einen zutreffenden, der heißt Lebenszeit.

Der dm-Slogan: ‚Hier bin ich Mensch, hier kaufe ich ein’ ist eine Abwandlung eines Zitats aus Goethes Faust. Stammt er vom Geist eines Künstlers im Gewand eines Unternehmers?
Jeder Mensch ist ein Künstler, ein Lebenskünstler. Wenn ich mit deutschen Kunden zu tun habe, dann ist es vernünftig, sie mit Dingen anzusprechen, die aus dem deutschen Kulturraum stammen. Wir werden getragen von unserem Kulturstrom. Unser Slogan ist eine Botschaft – an unsere Kunden, aber auch an uns selbst. Der Kunde ist für uns ein Mitmensch.

Woher nehmen Sie Ihre Inspirationen?
Früher habe ich zu meinen Studenten immer gesagt: Lest Biografien. So bekommt man eine Idee davon, was es heißt, ein Leben zu gestalten.

Gibt es eine Biografie, die Sie als Vorbild genommen haben?
Bleiben wir doch beim Faust: Das ist das Bild des modernen Menschen. So oft kann man es gar nicht anschauen, dass man es voll und ganz versteht.

Welchen Ratschlag geben Sie Ihren Kindern?
Den Ratschlag, den uns 1961 unser Konstanzer Rudertrainer Ludwig Markquart gegeben hat. Damals war Brigitte Bardot sehr bekannt und er hat immer gesagt: ‚BB steht nicht für Brigitte Bardot, sondern für: Beharrlich im Bemühen und bescheiden in der Erfolgserwartung’. 50 Jahre später muss ich sagen, dass das eine Lebensregel ist, die einem etwas bringt – weil 99 Prozent der Dinge schiefgehen, weil man ungeduldig im Bemühen und anspruchsvoll in der Erfolgserwartung ist. So scheitern Freundschaften, Ehen, Unternehmen.

Andere Regeln hatte Schlecker. Nun ist Ihr schärfster Konkurrent pleite. Was folgt für Sie daraus?
Dadurch haben wir neue Kunden, neue Mitarbeiter, denen wir gerecht werden müssen. Ich war gerade in einer Filiale, in der eine ehemalige Schleckermitarbeiterin arbeitet. Ich habe der Filialleiterin gesagt: ‚Wichtig ist, dass Sie sie nicht als ‚Schleckerfrau’ behandeln.’

Was heißt das denn?
Man darf einem Menschen nie mit einem Vorurteil begegnen.

Worüber freuen Sie sich? Dass sich Ihr Konzept durchgesetzt hat oder dass Sie einen Konkurrenten weniger haben?
Dass das Schleckersche Konzept nicht aufgeht, ist schon seit 20 Jahren bekannt.

Dafür gab es Schlecker noch ganz schön lange.
Das ist die große Überraschung. Damit hat keiner in der Branche gerechnet. Ich kenne kein Unternehmen, dem schon so lange der Untergang vorausgesagt wurde, und der dann so lange nicht eingetroffen ist.

Hätte das Aus von Schlecker verhindert werden können?
Natürlich. Das Unternehmen gab es 38 Jahre, nehmen wir das mal 365 Tage. So oft hätte es verhindert werden können.

Hätte es mehr wie dm werden müssen?
Besser hätte es werden müssen. Jeder Tag ist ein Beginn von vorne. Der Spruch ist auch von unserem Trainer. Er sagte auch: Verlasst euch nie darauf, was ihr gestern erreicht habt. Heute müsst ihr wieder neu versuchen, das zu erreichen.

Kennen Sie Anton Schlecker?
Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, aber ich habe ihn mal kennengelernt.

Haben Sie sich verstanden?
Das war nicht die Frage. Wir sind uns mal begegnet auf branchenspezifischen Anlässen, aber das ist schon 15 Jahre her. Er ist niemand, der auf Kongresse gegangen ist.

Sie machen gerade Urlaub am Bodensee. Warum hier?
Man muss ja niemandem sagen, dass der Bodensee eine von Gott begnadete Region ist, und deswegen hat sie auch eine große kulturelle Tradition. Nicht umsonst hat hier das Konzil stattgefunden. Es war der Brennpunkt der Welt. Und ich verbinde sehr viele persönliche Nostalgien mit dem See. Deshalb komme ich gerne hierher.

In Konstanz haben Sie von 1961 bis 1964 die Ausbildung zum Drogisten gemacht. Welche Erinnerungen haben Sie?
Es war eine unheimlich glückliche Zeit, unabhängig zu sein von zu Hause. Und dann die Nähe zur Schweiz, das war für mich ein neues Erlebnis.

Warum sind Sie nicht geblieben?
Ich musste weitermachen. Ich sollte das Unternehmen meines Vaters übernehmen. In Konstanz war nur die Lehre.

Diese Jahre waren Ihre erfolgreichsten als Ruderer. Sie wurden 1963 Jugendmeister. Steigen Sie noch ins Boot?
Jeden Tag. Heute morgen bin ich eine Stunde gerudert, etwa zehn Kilometer.

Kommen Sie jedes Jahr an den See?
Mehrmals, obwohl ich den Bodensee erst vor 16 Jahren wiederentdeckt habe. Interessanterweise war ich bei einer Fastenkur in Überlingen und hatte die Idee, wieder nach Konstanz zu fahren. Dort bin ich gleich zum Ruderclub und mit dem Einer nach Gottlieben gerudert. Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war – als wäre ich erst gestern dagewesen. Der See, die Hegauberge, die Reichenau. Und dann der Geruch, der ist ja ganz anders am See. Ich bin nach Hause gefahren und habe mir gleich ein Boot gekauft. Seitdem rudere ich wieder.

Sie fühlten sich wieder wie mit 20?
Ja, das war wie eine beglückende Reise in die Vergangenheit. 

 
Das Interview erschien am 11. September 2012 im SÜDKURIER

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