Ein Land schnappt über

Aus aktuellem Anlass: Nicht einmal drei Jahre ist die folgende Geschichte alt, nicht einmal drei Jahre hat Boris Johnson in der Downing Street überlebt. Etliche Menschen können derweil bis heute nicht fassen, dass er es überhaupt je zum Premierminister geschafft hat. Ich habe im Juli 2019 versucht, das Phänomen zu erklären:

*

Vielleicht war das alles unausweichlich.

Hat es sich nicht irgendwie angebahnt, schon vor 30 Jahren, als der Brexit noch in weiter Ferne lag, aber ein Mann namens Alexander Boris de Pfeffel Johnson von London nach Brüssel entsandt wurde als junger Korrespondent für den „Daily Telegraph“? Damals lieferte er aus der als langweilig verschrieenen Behörde einen Aufreger für die Titelseite nach dem anderen. Die böse EU wolle den stolzen Briten begradigte Bananen und quadratische Erdbeeren aufdrücken; vorschreiben, dass ihr liebster Snack, fettige Chips, nicht mehr nach Krabben zu schmecken hätten, Kinder unter acht Jahren fortan keine Luftballons aufblasen dürften und dass die EU auch noch bei Großbritanniens heiligem Getränk herumzupfuschen versuche, indem sie das Recycling von Teebeuteln verbieten wolle. Johnson wetterte über angebliche Überlegungen der Staatengemeinschaft, Kondome nur bis zu einer Breite „von 54 Millimetern“ zuzulassen, was den – natürlich besser bestückten – Englishman in seiner Schlafzimmer-Freude einzuschränken drohe. Die Tiraden des wortgewaltigen Autorenmögen witzig gewesen sein, selbst wenn die Wahrheit häufig auf der Strecke blieb. Geschenkt. Auf der Insel sogen sie die Märchen amüsiert und begierig auf. Die Kollegen der anderen Zeitungen rauften sich derweil die Haare und Boris Johnson, das darf man ohne Zweifel sagen, formte über Jahre zu einem hohen Grad nicht nur die öffentliche Meinung auf der Insel über die EU, sondern wurde selbst zu einer Marke, die er fortan in Fernsehshows bewarb und dann als schillernder Bürgermeister von London politisierte.

Vielleicht schließt sich nun einfach auch der Kreis.

Vergangenen Mittwochabend steht der 55-Jährige auf einer Bühne einer Halle im Londoner Osten, auf der auch schon die Red Hot Chili Peppers gespielt haben. Johnson, nicht Sänger, aber Entertainer gewiss, manche würden ihn auch als den Popstar unter den Politikern bezeichnen, wedelt mit einem eingeschweißten Fisch herum, einem Kipper noch dazu, der doch irgendwie als Delikatesse der berühmten British Cuisine gilt. Da schimpft er also auf die Brüsseler Eurokraten, die angeblich einem verärgerten Fischhändler auf der Isle of Man in der Irischen See vorschreiben, stets ein Plastik-Eiskissen beim Versand an den Kunden beizulegen. Was, bitte schön, erlaubt sich die EU in Great Britain? Er wütet, rhetorisch versiert, über europäische Regeln, wie nur Johnson das kann. Und bringt an diesem Abend, es soll die letzte Veranstaltung des wochenlangen Tory-Wahlkampfs werden, sogar die mitunter eher steifen Mitglieder der konservativen Partei zum Jubeln. Verbal auf die EU einzudreschen, funktioniert hier so verlässlich wie der Smalltalk übers Wetter. Dann lächeln sie selig, die Zuschauer in ihren XXL-„Back Boris“, „Stellt-euch-hinter-Boris“-T-Shirts. Viel Kampagne brauchte es gegen den Mitstreiter Jeremy Hunt, Typ Streber, ohnehin nicht. Die beiden, Ex-Außenminister gegen den amtierenden, standen im Wettbewerb um die Nachfolge der scheidenden Parteivorsitzenden Theresa May als die letzten verbliebenen Kandidaten im Finale. Es sollte ein Selbstläufer werden für Johnson. Nicht nur seine Anhänger zeigen sich seit Wochen überzeugt, dass ihr Wunsch-Tory am morgigen Mittwoch als neuer Premierminister in die Downing Street einziehen wird. Dafür ignorieren sie gerne, dass Johnson bei Details die Augen verdreht und die Sache mit dem Fisch und dem Kühlbeutel keineswegs auf einer EU-Vorschrift basiert, sondern eine britische Regelung darstellt. Ach, Boris eben. So einfach ist das dieser Tage. Manche nennen das Schauspiel auch frustrierend – wer kann es ihnen verdenken.

Vielleicht ist aber auch einfach alles schrecklich aus dem Ruder geraten auf der Insel, wo einst ein gesunder Pragmatismus dominierte, eine auf dem Kontinent unerreichte Weltoffenheit herrschte und der arme Kipper nicht zu Wahlkampfzwecken herhalten musste, sondern – Geschmack hin oder her – bereits zum Frühstück auf dem Tisch landete. Beim Blick über den Ärmelkanal stellt sich dann doch unausweichlich diese eine Frage: Sind die Briten nun völlig übergeschnappt? Boris Johnson, Premierminister. Damit hat dieser zwar seinen Berufswunsch als Kind – er wollte seiner Schwester zufolge einmal ganz unbescheiden König der Welt werden – nicht erreicht, aber sein Lebensziel allemal. Das sollte für ihn persönlich genügen. Ob es das für das Land ebenfalls tut, werden die nächsten Monate zeigen. Es bleibt zweifelhaft ob der anstehenden Herkulesaufgabe, die vor ihm liegt. Nicht nur dass er seine konservative Partei befrieden muss, was zu einem noch stärkeren Rechtsruck bei den Tories führen dürfte. Auch den Brexit, so hat er versprochen, will er bis spätestens 31. Oktober umsetzen – im Notfall ohne Austrittsabkommen. Das dürfte seit vergangener Woche deutlich schwieriger werden, nachdem Johnson, noch nicht einmal im Amt, am Donnerstag im Grunde seine erste Abstimmungsniederlage im Parlament hinnehmen musste. Das Unterhaus verabschiedete einen Gesetzeszusatz, der den künftigen Premier daran hindert, einen No-Deal-Brexit unter Umgehung der Abgeordneten durchzusetzen.

Allein dass der Drang nach solch einem Votum vorhanden war, sagt viel über die derzeitige Lage im Königreich aus. Johnson, der Wortführer der Brexit-Kampagne, ist höchst umstritten und das nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter den Parlamentariern. Dass er trotzdem bald die Regierungsgeschäfte leiten wird, schiebt Anand Menon, Direktor der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“, auf die Ergebnisse der Europawahlen im Mai. Bei diesen erlebten die Konservativen ein Desaster, die Brexit-Partei unter dem rechtspopulistischen EU-Hasser Nigel Farage ging als strahlender Sieger hervor – ein wütender Gruß der enttäuschten europaskeptischen Stammwählerschaft an die Regierung. „Die Tory-Basiserkannte für sich, dass man zwar schlussendlich Labour-Chef Jeremy Corbyn schlagen muss, gerade aber die Brexit-Partei die größte Bedrohung darstellt“, sagt der Politikwissenschaftler. Und nur einer, so schlussfolgerten Parlamentarier wie Mitglieder gleichermaßen, könne Farage schlagen: Boris Johnson „Er war der angriffslustigste Brexiteer und präsentiert sich positiver als alle anderen bezüglich des EU-Austritts“, so Menon. Zudem habe der Brexit die Politik verändert, jetzt liege eine „rebellische Stimmung in der Luft“. Und so verzeiht die Mehrheit der rund 160.000 konservativen Mitglieder „Boris“, wie er nur genannt wird, gerne all die Pannen und Patzer, Mini-Skandale und Entgleisungen, die so umfangreich in der Summe sind, dass sie Bücher füllen. Ob er Burkaträgerinnen mit Briefkästen vergleicht oder die Sorgen der Wirtschaft über den EU-Austritt mit einem „Fuck Business“ abtut. Ob er die Lage einer im Iran im Gefängnis sitzenden Britin leichtfertig verschlimmert oder sich mit Kritik an der diplomatischen Verfehlung von US-Präsident Donald Trump auffallend zurückhält und so den britischen Botschafter in Washington vor den Bus wirft. Alles scheint an dem Mann abzuprallen.

Zu jenen, die bei der letzten Wahlkampfveranstaltung vergangene Woche frenetisch ihren Helden feiern, gehört Lina Dimidri. Man darf sie getrost als Johnson-Fan bezeichnen. „Er ist kreativ, klug, spricht vier Sprachen und hat Ideen“, schwärmt die 53-Jährige in ihrem Union-Jack-Paillettenkleid. Überhaupt, meint sie, Johnson hätte schon vor drei Jahren Premierminister werden sollen. Damals, nach der Schlammschlacht, zu der sich die Referendumskampagne entwickelte und bei der Johnson besonders viel Dreck in Form von Lügen und Halbwahrheiten um sich warf, befand sein Mitstreiter Michael Gove, derzeit Umweltminister, Johnson sei unfähig, das Land zu führen.

Heute sehen das viele offenbar anders. In der jetzigen Abstimmungsrunde überwogen Opportunismus und Machtwille der konservativen Kollegen im Parlament. Wer will schon aus moralischem Anstand den Job oder – noch viel schlimmer – das Mandat verlieren, nur um sich gegen Boris Johnson zu stemmen? Seine blonde Mähne mag dieser Tage gekämmter und kürzer daherkommen, der Anzug sitzt auch besser und ein paar Kilos hat er ebenfalls abgespeckt. Ob das Königreich aber tatsächlich einen seriösen Politiker als Premier erhält oder einen Clown, wie ein Magazin kürzlich auf dem Titel fragte, daran scheiden sich die Geister.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.