Nach fast acht Jahren verlasse ich das Vereinigte Königreich. Ein persönlicher Rückblick auf lärmende Debatten in Westminster, die Auswirkungen des Brexit aufs Online-Dating und darauf, dass im strömenden Regen alles ganz anders kam als erwartet.
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Vor wenigen Wochen hatte ich einen dieser Londoner Nostalgie-Momente. Ich machte eine Besuchertour durch den Westminster-Palast und ausnahmsweise herrschte Stille im Unterhaus, wo es in der Regel lärmend, bisweilen wild zugeht. Ich dachte fast ehrfürchtig an all die Dramen, die sich in dieser Kammer abgespielt haben. Das Geraune, Gegrunze und Gegröle, bei dem man sich manchmal beim Dorf-Rugby wähnt, bezeugte man schon unter Margaret Thatcher oder Tony Blair. Weniger normal waren in den letzten Jahren die ständig wechselnden Premierminister, die schrillen Tiraden der Abgeordneten auf den abgewetzten grünen Bänken, der scharfe Ton, die Streitereien und Angriffe. Ein Theater – exzentrisch, übertrieben und aus der Zeit gefallen für die einen, gelebte Demokratie für die anderen.
Da gab es 2019 die unzähligen Abstimmungen, die sich bis weit in die Nacht zogen und immer mit dem Dauerthema Brexit verbunden waren. Irgendwie, irgendwann ist die Geschichte eskaliert. „Jetzt schnappen sie völlig über“, meinte ein britischer Kollege in einer dieser denkwürdigen Nächte, als wieder einmal alle Brexit-Optionen mit viel Lärm abgeschmettert und altgediente konservative Abgeordnete aus der Tory-Partei geworfen wurden.
Der Wahnsinn war jahrelang mein Leben. Die Arbeit geht nun zu Ende. Ich verlasse mein Zuhause, das London ist und im Herzen London bleibt, diese Metropole, die so bunt ist wie keine andere Stadt der Welt, außer vielleicht New York. In der man nicht anders kann, als swingend zu Marianne Faithfulls „Give My Love To London“ entlang der Themse zum Trafalgar Square, vorbei am Piccadilly Circus in Richtung Soho zu spazieren, wo sich schon in den 50er Jahren freiheitsliebende Frauen im Minirock emanzipierten und so in das Grau und die Spießigkeit platzten wie ungebetene Partywütige in einen Privatclub der englischen Oberklasse.
Die Schönheit Londons speist sich aus dem Alltag, den Menschen, der Energie, der Individualität und dem Mut, Neues auszuprobieren. „Wer Londons müde geworden ist, der ist lebensmüde; denn in London gibt es alles, was das Leben bieten kann“, sagte der Schriftsteller Samuel Johnson im 18. Jahrhundert.
Wo also beginnen mit einem Rückblick, wenn siebeneinhalb Jahre auf 12.000 Zeichen passen sollen? Drei Parlamentswahlen, drei Premierminister, zwei Referenden, royale Ablenkungsmanöver, Terroranschläge – und vor allem der Brexit. Wie will man eine persönliche Bilanz auf eine Zeitungsseite pressen?
Zunächst so viel: Alles war anders geplant, als ich am 1. Januar 2014 im Regen – typisch strömend und horizontal – in London ankam. Eine Kollegin fragte mit Erstaunen, warum eine Journalistin eine politisch spannende Gegend wie Jerusalem, wo ich zuvor gearbeitet hatte, für einen politisch langweiligen Ort wie Großbritannien aufgeben wollte. Das dürfte man in der Retrospektive als Fehleinschätzung des Jahrhunderts bezeichnen, aber was wussten wir damals schon. Ich wohnte im Süd-Londoner Stadtteil Clapham in einer viktorianischen Häuserzeile mit meiner Freundin Z, die am Silvesterabend wieder einmal von ihrem Freund verlassen worden war. Das war aber auch das schwerste Drama in diesen ersten Monaten. Das Land erschien stabil, die Politiker – Premierminister David Cameron, Vize Nick Clegg, Oppositionsführer Ed Miliband – sahen beinahe gleich aus und klangen auch so. Die größte Herausforderung bestand darin, die nach Unabhängigkeit strebenden Schotten nicht ziehen zu lassen, was sich am Ende als mühsamer Kraftakt darstellte. Immerhin, dieses Referendum im Jahr 2014 ging gut.
Es waren unbeschwerte Anfangszeiten. Ich beobachtete, wie sich Bekannte aus der gern so genannten Upper Middle Class durch das Nachtleben koksten, wie das Investmentbanker-Volk lediglich zum Duschen den Weg nach Hause fand, und ich schrieb über das Ende der Zooabteilung im Kaufhaus Harrods sowie die Royals als, ähem, strahlende Vorzeigefamilie. Ich versuchte zur Teetrinkerin zu werden – vergeblich, sodass ich bis zum Schluss zu einer seltenen Spezies im Königreich gehörte, verhaltensauffällig würden die Engländer es nennen.
Ich reiste durch das Land und verliebte mich in die Höflichkeit der Briten, den unverwechselbaren Humor wie auch die Offenheit und Unbeschwertheit. Ich fand in Schottland einen Herzensort, in Nordirland etliche Herzensmenschen. Probleme gab es da schon zahlreiche, ob in der ehemaligen Bürgerkriegsregion oder im Norden Englands. Und obwohl wir Korrespondenten über die schreiende Ungerechtigkeit im Land schrieben, das tief verwurzelte Klassensystem, die Verlierer der jahrzehntelangen strikten Sparpolitik, die sich wieder einmal mehrheitlich unter den Arbeitern und Armen fanden – wer hätte ahnen können, wo das alles enden sollte?
Boris Johnson war damals noch der extrovertierte Clown, der als Londons Bürgermeister das Volk mal gut, mal weniger gut unterhielt. Dann begann das Jahr 2016 und damit das Chaos. Eine Revolution, so englisch, wie sie nur sein kann. Die Abgehängten, die Wütenden und Frustrierten, sie begehrten beim EU-Referendum per Wahlzettel auf.
Zu jener Zeit beschloss mein Vermieter, dass unsere hübsche Häuserzeile fortan blau sein sollte. An einem Montagmorgen kam ein Engländer mittleren Alters in einem weißen Van vorgefahren, stellte sich als Matt vor – und begann das Haus zu streichen. Er stand ab neun Uhr morgens vor den großen Fenstern und winkte, wann immer er mich am Schreibtisch sitzen sah. Wir wurden zu Leidensgenossen, wenn man so will, in dieser Zeit, als die EU-Austritts-Kampagne immer hässlicher wurde und man erbittert um Bananen und Banales, um Staubsauer und Selbstbestimmung, um Freiheit und Fakten-Verdreherei, um Einwanderung und Egomanentum stritt.
Matt strich. Ich schrieb. So ging das Wochen. Er wollte für den EU-Austritt stimmen. „Why not?“, fragte er. Vielleicht müsse das System, das für zahlreiche Menschen nicht mehr funktionierte, zum Erschüttern gebracht werden. Er drückte wie so viele seiner Landsleute die Reset-Taste.
Eines Tages verkündete Matt, dass er mit der Arbeit von vorne anfangen müsse. Ein Eck zwar fehlte nur noch in seinem Werk, aber angeblich war genau jenes Blau im Baumarkt nicht mehr erhältlich. Und so kaufte er ein sogenanntes Oxford-Blau und begann, just an jenem Tag, als das Land zu den Urnen ging, mit einer erstaunlichen Gelassenheit das Oxford-Blau über das dunkle Himmelblau zu malen. „Independence Day“ – „Unabhängigkeitstag“, titelte derweil die Boulevardzeitung The Sun und proklamierte vor einer aufgehenden Sonne über dem Königreich die „Wiederauferstehung Großbritanniens“. Kollegen aus Deutschland riefen an, um sich versichern zu lassen, dass die Briten diesen Schritt doch wohl niemals gehen würden. „So verrückt sind die doch nicht.“
Sie waren es.
„We’re out“ – „Wir sind draußen.“ Der BBC-Sprecher wirkte an jenem Freitagmorgen des 24. Juni 2016, als verkünde er das Ableben der Queen. Jeder Brite und jede Britin kann sich an den Moment erinnern, als er oder sie erfahren hat, dass Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hat. Es herrschten Schock, Unglauben, Freude, Trauer, Euphorie. Egal auf welcher Seite man stand, überrascht waren alle.
Fortan fegte jeden Tag ein neuer Sturm über die Insel. Rücktritte, Rückzüge, Rückschläge. Ein bisschen erinnerte das Brexit-Votum an einen Polterabend, an dem man voller Euphorie all das Porzellan zertrümmert und am nächsten Tag verkatert vor einem Scherbenhaufen steht. Nur haben die Briten in ihrem Wahn keine bösen Geister vertrieben. Sie hatten sie erst gerufen. Und dann? Kollektiver Nervenzusammenbruch einer ganzen Nation, der Jahre andauern sollte und die Patientin tiefgreifend verändern würde. Der sogenannte Common Sense, der gesunde Menschenverstand, für den die Briten immer berühmt waren? Vorbei. Der Pragmatismus, von dem auch Europa stets profitiert hatte? Verlernt, verdrängt oder vernachlässigt.
Theresa May übernahm vom unseligen David Cameron, dem Vater dieses Desasters. May taumelte mit Dauerwortschleifen durch ihre Amtszeit. „Brexit heißt Brexit“ oder „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“ gehörten zu den Klassikern. Am Ende trat sie zurück oder wurde vielmehr, das darf man in dieser Deutlichkeit sagen, vom Hof gejagt. Es folgte die Boris-Johnson-Show. „It’s really not funny anymore“, titelte ein Boulevardblatt, nachdem Alexander Boris de Pfeffel Johnson es im Sommer 2019 tatsächlich als Premierminister in die Downing Street geschafft hatte. „Es ist nun wirklich nicht mehr lustig.“ Nein, das war es nicht.
Zu den Tiefpunkten gehörte die erzwungene Suspendierung des Parlaments. Nun lenkte jemand die Geschäfte, der schon drei Jahrzehnte zuvor als Brüssel-Korrespondent für den „Telegraph“ die Leser aufgestachelt hatte. Zu den legendären Geschichten etwa gehörte, wie die böse EU den stolzen Briten vorschreiben wolle, dass ihr liebster Snack, fettige Chips, nicht mehr nach Krabben zu schmecken hätten – und dass es angeblich Überlegungen der Union gebe, Kondome nur bis zu einer Breite von 54 Millimetern zuzulassen, was den selbstredend besser bestückten Englishman in seiner Schlafzimmer-Freude einzuschränken drohe. Johnson formte nicht nur die öffentliche Meinung über die EU, sondern wurde selbst zu einer Marke, die er 2016 nutzte, als er mit Halbwahrheiten fürs Leave-Lager trommelte. So erklärt sich zum Teil auch der Brexit. Und vielleicht schloss sich mit ihm als Regierungschef nur der Kreis.
Zurück blieben ein bitterlich gespaltenes Volk, eine verunsicherte Wirtschaft, erneute Unabhängigkeitswünsche der Schotten, Spannungen in Nordirland und ein Vertrauensverlust der Menschen in die Politik. Wie sollen diese Wunden heilen? Kompromisslösungen fehlen auf der Insel in der Trickkiste der Machthaber. Und Johnsons Cheerleader sind die Hardliner, die mittlerweile die Kabinettsposten besetzen und den Union Jack gekapert haben, der einst als Symbol für ein Cool Britannia stand und in einigen Kreisen nunmehr Wappen eines abstoßenden Nationalismus im Sinne von Rule Britannia ist.
Und doch, Schwarz-weiß-Erklärungen verfehlen den Kern. Eine unfreiwillige Feldstudie bot das Online-Dating in London. Neben einem Schauspieler aus „Downtown Abbey“ sowie überbezahlten City-Boys traf ich auf Männer aus dem Establishment, die sich in antiquierten Gentlemen Clubs die Jobs zuschacherten.
Erstaunlicherweise hatte ich in Bezug auf Brexit-Wähler eine Trefferquote von rund 90 Prozent. Deren Gründe reichten von der Forderung nach Souveränität, der Angst vor Brüsseler Überregulierungen bis hin zu der Hoffnung, die Häuserpreise würden fallen. Kein einziger bereute seine Entscheidung. Kein einziger war im Übrigen fanatisch. „Wie kannst du nur?“, wunderten sich Remainer- und europäische Kollegenfreunde, die ihre rote Linie anhand des Brexit zogen. Ich fand den vorurteilsfreien Blick im Privaten, aber insbesondere bei Recherchen, hilfreich. Als Auslandskorrespondentin fungiert man stets als Brücke zwischen dem Berichtsland und der Heimat – und in jenen Jahren hat die eine Seite kaum noch die andere verstanden. Großbritannien stand nie vor einem Meinungsumschwung. Unvorstellbar, den Brexit einfach abzublasen. Im Ergebnis war ich viel mit Erwartungsmanagement beschäftigt.
Wie konnte es soweit kommen? Ein kluger Historiker erklärte mir einmal einleuchtend, was zu der Entscheidung beigetragen hat. Das System auf der Insel habe in den vergangenen Jahrhunderten – anders als auf dem Kontinent – nie komplett versagt. Der Stolz auf die eigene Geschichte, die Institutionen und Traditionen sei tief verankert und verschleiere gerne die Missstände. Vielleicht war eine Revolution – 367 Jahre, nachdem Karl I. auf dem Schafott den Kopf verlor – also einfach überfällig. Der Brexit mit all seinen Konsequenzen, er könnte auch etwas Reinigendes haben.
„Let’s get on with it“, „Packen wir es an“: Das wurde mir jüngst oft entgegenschleudert, von Unternehmern, Freunden oder Kontakten, die von Negativszenarien nichts mehr hören wollen, auch wenn sie die negativen Folgen der letzten Jahre, etwa im Import oder bei Urlaubsreisen, längst spüren. Der Brexit sei ein „pain in the ass“, meinte ein Manager, „ein Ärgernis“, aber „nicht das Ende der Welt“.
„Die Sektion der post-apokalyptischen Fiktion ist in die Abteilung Zeitgeschehen umgezogen“, hieß es auf einem Plakat eines Buchladens zur Hochzeit des Dramas. Ich werde dieses Urbritische, selbst in den größten Krisen noch mit Humor zu reagieren, vermissen. Ich werde die Diskussionen im Pub vermissen, wo allabendlich die Welt neu erfunden wird; manchmal ist sie tatsächlich eine andere, eine beschwipst bessere, nach diesen Stunden. Ich werde die Freundlichkeit der Menschen vermissen. Und ich werde die Leichtigkeit vermissen, mit der die Briten das Leben angehen. Sie haben das Durchwurschteln zur Kunstform erhoben. Und so bleibt nur eines zum Abschied: Goodbye my beloved Britain, and good luck!