Ein unperfekter Frieden


Vor 20 Jahren ebnete das historische Karfreitagsabkommen den Weg zum offiziellen Frieden in Nordirland. Doch insbesondere in Belfast können die Menschen die Vergangenheit nur schwer hinter sich lassen. Bis heute trennen sogenannte Friedensmauern die pro-britischen Unionisten und pro-irischen Republikaner.

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Auf der einen Seite der Mauer und damit auch der Geschichte schlendert Noel Large mit Händen in den Hosentaschen die Shankill Road in Belfast entlang, vorbei an Wandbildern, die Königin Elizabeth II. feiern oder getötete Kameraden ehren, die von Bomben und Toten, von Helden und Terroristen erzählen, von einem Bürgerkrieg, der diese Gegend jahrzehntelang mit Leid überzogen hat. Sie erzählen in gewisser Weise auch aus dem Leben von Noel Large, diesem zierlichen Mann mit Brille, grauem Dreitagebart und kahlem Kopf, der nun, mit seinen 60 Jahren, Besucher herum- und zurückführt in die schreckliche Vergangenheit, die auch seine ist.
Rund drei Jahrzehnte lang standen sich hier in bitterer Feind- und gleichzeitig enger Nachbarschaft die pro-britischen, protestantischen Unionisten und die katholischen Republikaner, die eine Abtrennung von Großbritannien und eine Vereinigung mit der Republik Irland anstreben, gegenüber. Large fühlt sich als Loyalist der Krone verbunden, ist ehemaliges Mitglied der paramilitärischen Gruppe Ulster Volunteer Force (UVF) und heute voller Bedauern über seine Taten. Während der „troubles“, der „Unruhen“, wie die Briten den blutigen Konflikt mit insgesamt rund 3700 Opfern erstaunlich verharmlosend nennen, wurde er dafür, dass Nordirland britisch bleibt, zum Mörder. Er war erst Anfang 20, als er eines nachts einem vom Pub heimkehrenden Mann in den Kopf schoss. Large kannte ihn nicht. Katholisches Zufallsopfer. So einfach war das damals. Als dieser am Boden verblutete, schaute der gläubige Protestant gen Himmel. Dann stieg er in sein Auto und fuhr nach Hause.

Im Jahr 1982 wurde Noel Large verhaftet und zu 357 Jahren Gefängnis verurteilt – vier Mal lebenslänglich für vier vor Gericht gestandene Morde. 16 Jahre später sollte er ein freier Mann sein. Dass Large seine Strafe nicht in Gänze verbüßen musste, hat er dem Karfreitagsabkommen zu verdanken. Es ebnete 1998 den Weg zu einem offiziellen Frieden in Nordirland. Am 10. April unterzeichneten Vertreter der britischen und irischen Regierungen sowie der nordirischen Parteien nach jahrelangen Verhandlungen das historische Friedensabkommen, das neben einer Polizeireform, einer Entwaffnung aller paramilitärischen Organisationen und einem Ende der Direktherrschaft aus London auch die Amnestie für politische Gefangene vorgab. 20 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden keineswegs verheilt. „Es findet keine Versöhnung statt, das wird noch Generationen brauchen“, sagt Noel Large, heute Sozialarbeiter und Touristenführer. „Wir mögen Frieden haben, aber er ist nicht perfekt.“

Das klingt abermals wie ein Euphemismus angesichts der noch immer nach Religion getrennten Schulen, dem Stacheldraht, der wie eine Drohung auf den Mauern Belfasts sitzt und der politischen Wirklichkeit. Seit fast 15 Monaten gibt es in der Provinz keine Regionalregierung, nachdem im Januar 2017 der mittlerweile verstorbene Vize-Regierungschef Martin McGuiness von der republikanischen Sinn-Féin-Partei, dem früheren politischen Arm der IRA, zurückgetreten ist und sich damit die Koalition mit der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aufgelöst hat. Es herrscht Stillstand. Manche reden von Rückschritt und kaum jemand von Zuversicht hinsichtlich einer Lösung des Regierungschaos‘.

Dabei hatten sich viele Beobachter gewünscht, dass dieser 20. Jahrestag des Karfreitagsabkommen mit viel Feierlichkeit und Optimismus begangen wird, darunter auch Bertie Ahern und Mark Durkan. Ahern, ehemaliger irischer Regierungschef, gilt als einer der Architekten des historischen Vertrags. Auf Druck von ihm, des britischen Ex-Premiers Tony Blair sowie des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton wurde das Friedensabkommen unter Aufsicht der Vereinten Nationen beschlossen. Durkan stand einmal der sozialdemokratischen SDLP vor, deren ehemaliger Chef John Hume gemeinsam mit Lord David Trimble von der pro-britischen Ulster Unionist Party (UUP) das Abkommen ausgehandelt und dafür den Friedensnobelpreis erhalten hat. Doch in den vergangenen 20 Jahren haben die radikaleren Parteien den gemäßigten wie SDLP und UUP den Rang abgelaufen.

An diesem Nachmittag sitzen Mark Durkan und Bertie Ahern nebeneinander, beide wirken ernüchtert vom Heute und beflügelt von der Vergangenheit. „Das Karfreitagsabkommen war eine großartige Errungenschaft, die man nicht als selbstverständlich annehmen darf“, sagt Ahern. Doch genau das sei derzeit Teil des Problems. „Diese Woche dient hoffentlich als Erinnerung daran, wie bedeutend das Abkommen ist und dass wir zurück zu dessen Prinzipien gelangen müssen.“ Die Menschen wollten nicht von Westminster regiert werden. „Die Herausforderungen heute sind nicht vergleichbar mit jenen, die wir damals zu bewältigen hatten“, meint auch Mark Durkan in Richtung DUP und Sinn Féin. Das Übereinkommen legte auch die Bildung eines nordirischen Parlamentes sowie die Möglichkeit eines Referendums zur Wiedervereinigung mit der Republik Irland fest.

Auf der anderen Seite der Mauer und damit auch der Geschichte Belfasts redet der Republikaner Peadar Whelan an jenem sonnigen Morgen von rund 1800 Familien, die hier in der Gegend um die pro-irische Falls Road in den drei Jahrzehnten aus ihrem Zuhause gebombt worden seien, davon überwiegend Nationalisten. An den verwechselbaren Reihenhäusern aus braunrotem Backstein stecken etliche irische Flaggen wie als Zeichen, auf welcher Seite die Bewohner bis heute stehen. Sie leben im Schatten der „Peace Walls“, die die Stadt durchschneiden. Whelan überquert sie nie, spricht ohnehin lieber von „Sicherheitsmauern“ und deutet dann auf die Wandbilder, die an die berühmten Hungerstreiks von im Gefängnis sitzenden Mitgliedern der provisorischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) wie Bobby Sands erinnern.
Mit Kappe auf dem Kopf und Palästinenserschal um den Hals schildert der ehemalige Anhänger des gewaltbereiten Flügels der paramilitärischen Untergrundorganisation seine Sicht auf die Dinge: „Es war kein religiöser Krieg. Unser Kampf war seit jeher antikolonialistisch und antiimperialistisch ausgerichtet. Wir wollen Nordirland aus britischer Herrschaft befreien.“ Das ist bis heute sein Ziel, nur die Mittel des Kampfs haben sich geändert seit dem Karfreitagsabkommen – weg von der militärischen hin zur politischen Auseinandersetzung. Der einstige IRA-Kämpfer Whelan wurde 1977 wegen Mordes verurteilt und verbrachte die folgenden 16 Jahre hinter Gittern. Ob er tatsächlich einen Menschen getötet hat? „Ich wurde verurteilt“, sagt der 60-Jährige nur. Und dass er keine Reue verspürt. „Ich bin, wer ich bin und ich war, wer ich war.“

Das Gebilde in Nordirland ist fragil und das noch mehr, seit sich die Tories in London in einer Minderheitsregierung von der erzkonservativen, protestantischen DUP dulden lassen. Die Partei, so muss man wissen, lehnte damals das Karfreitagsabkommen ab und preist heute den bevorstehenden Brexit als Heilsbringer – auch wenn beim Referendum 2016 in Nordirland eine Mehrheit von 56 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte. Selbstbewusst erscheint Ian Paisley junior an diesem Nachmittag in einem Belfaster Hotel. Der DUP-Abgeordnete gehört zu den bekanntesten Politikern des Landes, was vor allem seinem Vater geschuldet ist, Reverend Ian Paisley. Dieser schloss auf seine alten Tage eine Art Freundschaft mit dem einstigen Erzfeind, dem früheren IRA-Mann Martin McGuiness. Das ungleiche Paar – beide sind mittlerweile tot – verlieh Nordirland in einer Koalition der Kompromissbereitschaft und Vernunft für viele Jahre politische Stabilität.
Der Sohn nennt seinen Vater heute eine „Legende“, will aber offenbar trotzdem nicht dessen Vorbild folgen und schon gar nicht in den Gratulationskanon rund um das Karfreitagsabkommen einstimmen. „Es ist wie eine falsche Geburtstagsparty, auf der man seinen 50. Geburtstags feiert, obwohl man eigentlich 30 Jahre alt sein will.“ Dafür freut er sich auf den Brexit, er nennt den EU-Austritt „eine Revolution“, und meint, die Grenzfrage, die wie eine dunkle Wolke über den Scheidungsverhandlungen hängt und als schwierigste Hürde gilt, sei von Brüssel kreiert und „nicht unser Problem“.

Das Königreich wolle auch künftig keine Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Wie das gehen soll, wenn die Briten den gemeinsamen Binnenmarkt sowie die Zollunion verlassen, ist auch knapp zwölf Monate vor dem offiziellen Ausscheiden aus der Gemeinschaft unklar. Hinzu kommt, dass viele Bestimmungen des Karfreitagsabkommens auf einer unsichtbaren Demarkationslinie ohne Kontrollen basieren. Derzeit verraten allein die Temposchilder, die in Irland in Kilometer und auf nordirischer Seite in Meilen angegeben werden, wenn Autofahrer die Grenze überqueren.

„Der Brexit ist ein Desaster für diese Insel“, sagt Brian Rowan, der fast 20 Jahre lang den Nordirlandkonflikt für die BBC journalistisch begleitet hat. Er wirkt müde und ist es auch. Der Krieg sei vorbei und dieser Landesteil ein völlig anderer als vor zwei Jahrzehnten, betont er zwar. Trotzdem blickt Rowan wenig optimistisch in die nahe Zukunft. „Man kratzt an einigen Oberflächen und sofort sind wir zurück in der Zeit von vor 1998.“ Es brauche wieder ein Momentum sowie politische Führung – wie eben Mitte der 90er Jahre und in den Folgejahren. „Während die Bevölkerung den Politikern weit voraus ist, trägt die gewählte politische Klasse noch immer den alten Konflikt aus.“

Auf der pro-irischen Falls Road bittet ein Mann, er stellt sich als Pat vor, kurz um Aufmerksamkeit. Wie das Leben im Schatten der Mauer aussieht? „Es herrscht zum Glück keine Gewalt mehr“, sagt der Republikaner, der auf so vielen Beerdigungen von Nachbarn, Freunden und Verwandten war, dass er irgendwann aufhörte zu zählen. Aber man solle sich nur vorstellen: „1998 gab es 48 sogenannte Friedensmauern, im Jahr 2018 haben wir inklusive Tore und Zäune 117.“ Seiner Meinung nach geben diese Zahlen die Wirklichkeit besser wieder als die Worte vieler Offizieller, die das ohne Zweifel aufstrebende Belfast, die schicke neue Innenstadt und das Wirtschaftswachstum preisen.

Laut der jüngsten Umfrage fordern nur 13 Prozent der Anwohner, dass der Beton abgerissen wird, 87 Prozent wünschen sich, dass die Mauern bleiben. Belfast findet offenbar auch 20 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens lediglich durch die Teilung eine Art Frieden. Viele Menschen wollen, nein, sie können die Vergangenheit nicht los- und schon gar nicht hinter sich lassen. Noch nicht.

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