Schicksalstag für Großbritannien – am 23. Juni stimmen die Briten über ihre Mitgliedschaft in der EU ab und beide Seiten führten einen teils bitteren Wahlkampf. Wie ist die Stimmung im Königreich, wie liefen die Kampagnen? Eine Reise durchs Land.
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Die Schlacht um Europa begann an einem Mittwoch. Es war kein besonders schöner Tag. Stundenlang prasselte Regen auf London nieder und auch im Rest des Königreichs konnte man kaum ahnen, dass der Mai bereits vorangeschritten war. Jetzt schwirrten auch die letzten Freunde und Feinde der Europäischen Union in alle Ecken eines Landes aus, das in Kürze über seine Zukunft abstimmen soll. Die Uhr tickte. Nur noch sechs Wochen blieben den Mitstreitern beider Kampagnen bis zum Referendum am 23. Juni, um die Briten von ihrer jeweiligen Seite zu überzeugen. Die EU verlassen? Oder bleiben? Die Diskussion dreht sich viel um Bananen und Belangloses, um Staubsauger und Selbstbestimmung, um Freiheit und Fakten-Verdreherei, um Einwanderung und Egomanentum. Sie wird erbittert geführt.
Der ehemalige Premierminister Gordon Brown präsentiert sich an diesem Mittwoch zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam auf einer Bühne der renommierten London School of Economics and Politics. Als Labour-Mann betont er die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft – das stärkste Argument der „Remain“-Kampagne – und dass 45 Prozent aller Exporte nach Europa fließen. Dass der Zugang zum Binnenmarkt der Schlüssel zum Wohlstand ist, dass tausende Jobs bei einem Austritt wegfallen würden und Großbritannien als Teil der Gemeinschaft reicher und sicherer dastehe angesichts der gegenwärtigen Terrorgefahr. Es sind die üblichen Argumente und doch vermeidet es Brown, in den Kanon vieler EU-Befürworter wie etwa Premierminister David Cameron einzustimmen, denen täglich „Angstmacherei“ vorgeworfen wird. Die Wähler wünschen eine positive Botschaft, heißt es von der einen Seite. Die Risiken seien aber nun mal immens, schallt es von der anderen. Brown packt die Zuhörer dagegen bei ihrem Nationalstolz, ihrer Geschichte, Großbritanniens Stellenwert in der Welt. Manchen Zuhörern stehen beim historischen Rückblick kurz die Tränen in den Augen. Gordon Brown ist in guter Form. Geht auf und ab, macht Witze, wirkt befreit. „Er war ein verdammt furchtbarer Premier, aber er ist ein verdammt guter Ex-Premier“, sagt später ein Mann. Vielleicht rettet Brown wie bereits in seiner Last-Minute-Rede vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 den Status Quo. Vielleicht auch nicht. Die Situation ist eine andere, nicht nur wegen der geografischen Insel-Lage. Ein europäisches Herz hat in den Briten nie geschlagen.
Mehr als 400 Kilometer entfernt rollt Boris Johnson im „battlebus“, einem knallroten „Kampfbus“, in Truro in Cornwall ein. Die Gegend mit ihrer rauen Steilküste, den strahlenden Blüten in den Vorzeigegärten und den malerischen Landschaften ist Fernsehzuschauern vor allem aus Rosamunde-Pilcher-Filmen bekannt – tausende Touristen pilgern jährlich in den Südosten Englands. An diesem Maitag hält hier Johnsons Brexit-Tour zum ersten Mal. „Wir senden 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU“, steht auf dem Bus, der in Polen und von einer deutschen Firma gebaut wurde. Die Ironie macht nur kurz Schlagzeilen. Längst ist derweil die 350-Zahl von Experten und Instituten widerlegt, da sie weder den Beitragsrabatt von fast 100 Millionen Pfund noch die Subventionen berücksichtigt, die die Briten erhalten. Ganz abgesehen von den indirekten Vorteilen. Trotzdem bedient sich ihr das „Leave“-Lager, um auf Brüssel zu schimpfen. Der Ex-Bürgermeister Londons, dem vorgeworfen wird, er unterstütze die Brexit-Seite nur aufgrund seiner Ambitionen auf das Amt des Premierministers, steigt aus seinem Gefährt und wedelt mit einer Cornish Pasty. Es handelt sich um die Spezialität der wirtschaftsschwachen Region, die von der EU Fördermittel erhält. Der beliebte Blondschopf hat vielleicht absichtlich ausgelassen, dass ausgerechnet die EU die kornischen Blätterteigtaschen als geografische Angabe geschützt hat. Seit 2011 dürfen die Cornish Pasties unter diesem Namen nur noch in Cornwall hergestellt werden.
Aber Wettbewerbsvorteil hin, Wettbewerbsvorteil her – Boris Johnson kommt mit seiner Rede, wie üblich gespickt mit Witz und Charme, in Cornwall gut an. Sie handelt von Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit. „Wir können uns die Kontrolle zurückholen“, ruft er. Es sei „absurd, dass uns gesagt wird, dass wir Bananen nicht in einem Bündel von zwei oder drei Stück verkaufen können“. Kurz wähnt man sich in einer Bananenrepublik statt in Großbritannien. Boris, wie er nur genannt wird, läuft zur Hochform auf. Er gehört neben dem konservativen Justizminister Michael Gove und dem Vorsitzenden der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, Nigel Farage, zu den lautstärksten Brexit-Befürwortern. Seit Wochen deuten die Umfragen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. Längst zählen nicht mehr nur Fakten, sondern vor allem Emotionen.
Eine halbe Zugstunde von der Weltmetropole London entfernt liegt der Bezirk Havering: Vor einigen Wochen machte das Meinungsforschungsinstitut YouGov die Gegend als die europaskeptischste im gesamten Königreich aus. Die Spurensuche in deren größten Stadt Romford beginnt an einem Gebäude, das den Namen Margaret-Thatcher-Haus trägt, und sie endet, wie meistens in Großbritannien, im Pub.
Das Hauptquartier der Konservativen, das gleichzeitig als Basis der parteiübergreifenden „Leave“-Kampagne dient, ist nur unschwer als solches zu erkennen. Dutzende Plakate kleben an den Fenstern, der Union Jack weht im Wind. Eine große Gedenktafel erinnert an die Eiserne Lady, Fotos von ihr schmücken die Wände im Inneren und stehen im Flur auf einem altarähnlichen Tisch. Der Thatcherismus lebt hier fort. Aber ihre legendären Worte zur Durchsetzung des sogenannten Briten-Rabatts, „I want my money back“, haben sich überholt. Die Europakeptiker fordern jetzt: „We want our country back“.
Es empfängt Andrew Rosindell, konservativer Abgeordneter und Austrittsbefürworter, Kategorie eifrig und leidenschaftlich, freundlich und überzeugend. Zu Ruhm gelangte er während des Wahlkampfs 2001, als er an der Seite eines in eine Union-Jack-Weste gekleideten Bullterriers auftrat. Ein Hund-in-Flagge-Keramik-Türstopper erinnert an die tierische Episode. „Wir sind in einer traditionellen Marktstadt, wo ein instinktiver Glaube an das Land und ein tiefsitzender Patriotismus herrschen“, erklärt Rosindell die EU-Ablehnung in der Region und trinkt einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse in britischen Nationalfarben. Für ihn ging der europäische Weg völlig schief. „Uns wurde Stück für Stück unsere Demokratie weggenommen und das Recht, unsere eigenen Entscheidungen in unserem eigenen Land zu treffen.“ Als Parlamentarier fühle er sich, als stempele er nur noch EU-Gesetze und Regelungen ab. Mehr nationale Souveränität und weniger Fremdbestimmung – es ist eines der zentralen Argumente der Austrittsbefürworter, das viele stolzen Briten auf Brüssel schimpfen lässt. Selbst einige Vertreter von stark EU-subventionierten Branchen wie etwa der Fischerei oder der Landwirtschaft möchten deshalb die Mitgliedschaft aufkündigen. Doch den Ausschlag könnte am Ende das Thema Immigration geben.
„Wir werden überrannt“, sagt Steve Golden. Er lehnt an der dunklen Holztheke des lokalen Pubs „Golden Lion“ in Romford und trinkt zum Mittagessen ein Pint Pale Ale. Der 57-Jährige arbeitet in der Baubranche und mit vielen Einwanderern zusammen. Aber Großbritannien halte den Zustrom der Migranten nicht aus. „Unsere Grenzkontrollen funktionieren nicht.“ Darunter litten Schulen und Krankenhäuser, es mangele an Wohnraum. Tatsächlich trifft er damit den wunden Punkt des britischen Premierministers David Cameron. Dieser hatte seinen Landsleuten zugesagt, die Gesamtzahl der Einwanderer auf unter 100.000 Neuankömmlinge pro Jahr zu senken. Stattdessen zogen mehr als 300.000 Menschen jährlich auf die Insel, der Großteil stammt aus anderen EU-Staaten. Die sogenannten Brexiteers nutzen das gebrochene Versprechen geschickt, um Stimmung im Land zu machen. Und die Rechtspopulisten profitieren von der Anti–Einwanderungsdebatte. Die Entwicklung sei „einfach nicht richtig“, findet Steve Golden.
In der Fußgängerzone schreien Gemüsehändler derweil um die Wette und nahe der Essenstände riecht es nach „Fish & Chips“. Es ist Markttag. An einer Ecke sitzt ein Straßenmusikant und schmettert Elvis Presleys Hit „It’s Now Or Never“. Eine Frau mit einem „In“-Aufkleber auf dem Rucksack wirft eine Ein-Pfund-Münze in den Hut.
Jetzt oder nie?
Universitätsstädte wie Cambridge oder Oxford gehören zu den europafreundlichsten Orten auf der Insel, vor allem wegen des großen Anteils junger Menschen, die sich Umfragen zufolge in der Mehrheit gegen den Brexit aussprechen – nicht nur weil sie mit Reisefreiheit und in einem Multi-Kulti-Umfeld aufgewachsen sind, sondern auch, weil sie Nachteile auf dem internationalen Arbeitsmarkt befürchten. Aber werden sie auch ihre Stimme abgegeben? „Dass die Menschen nicht wählen gehen, ist unsere größte Sorge“, sagt Lucasta Bath. Die 19-Jährige studiert Französisch und Deutsch an der renommierten Universität in Oxford, aber zurzeit beherrscht Europa ihren Alltag. Mehrmals pro Woche klopft die Vorsitzende der „Oxford Students for Europe“ an unzählige Türen von der für die Insel so typischen Reihenhaussiedlungen, die vor allem dadurch auffallen, dass sie sich in keinster Weise unterscheiden. So eilt sie im Stechschritt von der Helen Road in die Alexandra Road: „83 Prozent ‚in‘, null Prozent ‚out’“, liest einer von seiner selbst erstellten Umfrageliste ab. Gibt es sie etwa hier, die wahre Liebe zum Kontinent?
Oxford sei eine „pro-europäische Blase“, schränkt der Aktivist Andy McKay ein. Eine Besonderheit. Julian LeVay ist an diesem lauen Abend der einzige Nicht-Student in der Gruppe, sein Rucksack quillt vor Flyern und Plakaten über. Der 65-Jährige stellt sich als „ehemaliger Euroskeptiker“ vor. Zu Beginn habe er sich nur für seine Kinder engagieren wollen, die auf dem Kontinent leben. Mittlerweile betrachtet der Historiker die EU zwar immer noch als chaotische Organisation, aber es sei besser, aus dem Inneren heraus daran zu arbeiten als von außen zuzuschauen und Auflagen diktiert sowie Rechnungen gestellt zu bekommen, wie das etwa bei Norwegen der Fall sei – eines der Länder, dessen Modell von der Austritts-Seite häufig gepriesen wird. Zudem stoßt ihn die Rückwärtsgewandtheit vieler Anhänger des „Leave“-Lagers ab. Julian LeVay bescheinigt ihnen eine „aggressive Nostalgie“. Dabei sei die Zeit von vollkommen autarken Nationen vorbei. „Das mag für meine Generation schmerzhaft sein, aber es ist die Wahrheit.“ Die Konsequenzen, sollte Europa scheitern, wären schrecklich und ein Brexit, so befürchtet nicht nur er, sondern zahllose politische Beobachter, könnte der „Anfang vom Ende“ der europäischen Idee bedeuten.
LeVay klingelt bei der Nummer 198 und findet einen Unternehmer vor, den er nicht mehr überzeugen muss. Natürlich stimme dieser für den Verbleib. Immerhin habe er eine Dänin, eine Ungarin und eine Italienerin angestellt. „Ohne sie kann ich mein Geschäft schließen.“ Am 23. Juni entscheidet sich nicht nur sein Schicksal.