Gentlemen am Ende der Welt

Rugby

Am Wochenende treten Neuseeland und Australien im Finale der Rugby-Weltmeisterschaft gegeneinander an. Das Gastgeberland England ist schon lange ausgeschieden, dabei sollte es die Party des Jahres werden. Das Sportereignis ist das drittgrößte Sportevent der Welt – obwohl die erste Rugby-WM erst Ende der 80er Jahre stattfand. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte des rauen Elitensports.

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England stürzte bereits vor wenigen Wochen in tiefste Verzweiflung. Da verlor die Rugby-Auswahl der Insel gegen Australien und schied vorzeitig bei der Weltmeisterschaft aus – die auch noch im eigenen Land stattfindet. Am Sonntag stehen sich nun Neuseeland und Australien im Finale gegenüber und die englischen Fans müssen zuschauen. Sie haben das „demütigende“ Debakel in der Gruppenphase des Turniers denn auch noch immer nicht überwunden. Das Spiel gilt jetzt schon als eine der schlimmsten Niederlagen in der englischen Sportgeschichte. „Wir sind am Ende der Welt“, hieß es. Eine Welt, in der Deutschland so gut wie keine Rolle spielt. Dabei ist die Weltmeisterschaft das drittgrößte Sportereignis weltweit – nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM. Das Mutterland des Rugbys rechnete bis zum Finale mit einer halben Million Fans. Milliarden Menschen verfolgten das Spektakel vor dem Fernseher.

Das „Home of England Rugby“ steht im Süden Londons. Rund 82.000 Menschen passen ins Twickenham Stadion, wo manches Spiel mehr als Schlacht denn als Sport anmutet. Wo manches Tackling beim bloßen Zusehen Schmerzen bereitet. Aber wo gemeinhin die Ober- und Mittelschicht das Gros der Zuschauer ausmacht. Rugby steht in England noch immer im Ruf, der Volkssport der reichen Elite zu sein, während die Arbeiter- und Unterschicht Fußball spielt. Im Pub erklären die trinkfesten Anhänger des raubeinigen Sports deshalb fast stolz den Unterschied mit den Worten: „Rugby ist ein Spiel für Hooligans, das von Gentlemen gespielt wird. Fußball ist ein Sport für Gentlemen, der von Hooligans gespielt wird.“ Aber passt dieses Bild zu den brutal wirkenden Aufeinandertreffen?

5 Dec 1998: A general view of the match between England and South Africa at Twickenham in London, England. England won the game 13-7. Mandatory Credit: David Rogers /Allsport

England gegen Südafrika im Twickenham-Stadion in London bei einem Spiel im Jahr 1998. Bild: David Rogers /Allsport (Bild erhalten vom Rugby-Museum)

Rugby ist tief verankert in der englischen Identität und hat viel mit Traditionen und der viktorianischen Zeit zu tun, in der der Volkssport entstand. Noch im 19. Jahrhundert unterschieden sich Fußball und Rugby, das an Eliteinternaten wie Eton und Cambridge gespielt wurde, kaum voneinander, berichtet Michael Rowe, Kurator des Rugby-Museums in London. Zwar geistert noch immer die Legende durch die Welt, dass im Jahr 1823 ein Schüler namens William Webb Ellis während eines Fußballspiels die Regeln missachtete, indem er plötzlich den Ball in die Hand nahm, Richtung Tor rannte und somit eine neue Sportart begründet habe. „Aber das ist Folklore“, sagt Rowe. Vielmehr habe sich der Mannschaftssport über Jahrzehnte an den Knabenschulen und -internaten entwickelt. Durch Rugby sollten Jungen zu Zeiten des Empires zu „christlichen Gentlemen“ erzogen werden, die später im Militär das Weltreich verteidigen sollten. Mit Leidenschaft und Disziplin um den Sieg zu kämpfen, keine Herausforderung zu scheuen und körperliche Schwäche zu verbergen, darum ging es. Zugleich war die Gesellschaft fasziniert von der Schönheit der Körper, die bis heute in engen weißen Trikots stecken.

Doch auch wenn Rugby körperbetont ist und bisweilen rabaukenhaft herüberkommt – es gehe „um Disziplin, Fairness und Respekt für den Gegner“, sagt Rowe. Keiner schreit den Schiedsrichter an oder diskutiert Entscheidungen. Wenn der Unparteiische überhaupt angesprochen wird, dann mit „Sir“. Rugby basiert auf „laws“, Gesetzen, und nicht auf Regeln. Die nicht immer leicht zu lernen sind, weshalb sich die Schulbuben früher auch kleine Büchlein in ihre Hosentaschen steckten, um während des Spiels nachschauen zu können. Nach den regulären Halbzeiten beginnt traditionell die wichtigste Runde, bei der beide Teams zusammensitzen und sehr viel Bier ihm Spiel ist.

Wenn Emmanuel Flores Toscano an Schwalben oder Schauspielereien bei Kickern denkt, verdreht er die Augen. „Wir täuschen keine Verletzungen vor“, sagt der 32-Jährige, der in Deutschland in der ersten Liga Rugby für St. Pauli spielt und durch Glück Tickets für zwei Begegnungen in London ergattert hat. Es sei eher so, dass verletzte Spieler vorgeben, in Ordnung zu sein, um weiterspielen zu können. Zahlreiche Rugby-Anhänger verspotten Fußball deshalb gerne als „Sport für Weicheier“.

Dass erst seit 1987 alle vier Jahre eine Weltmeisterschaft im Rugby ausgetragen wird, lag nicht an fehlender Popularität, sondern daran, dass die Entscheidungsträger den Geist des Spiels schützen wollten. „Sie fanden, es sollte nicht ums Kämpfen oder Gewinnen gehen, sondern um die Freude am Spiel“, so Historiker Rowe. Ihm zufolge steht der Sport derzeit vor der größten Herausforderung seiner Geschichte: „Die Kultur, die Werte und Traditionen müssen trotz zunehmender Kommerzialisierung bewahrt werden.“

Hat Deutschland das Aufkommen des Mannschaftssports verschlafen? Noch immer stammen die meisten WM-Teilnehmer aus dem Commonwealth, etwa aus Neuseeland oder Tonga, mittlerweile sind jedoch auch Frankreich und Italien rugbybegeisterte Nationen. Michael Rowe zufolge gab es vor dem Ersten Weltkrieg einige gute Teams aus Deutschland, Rugby wurde unter anderem an den Universitäten in Heidelberg und Hamburg gespielt. Warum es sich nicht weiterentwickelt hat? Er hat zwar keine Erklärung, aber natürlich eine Legende parat: „Anscheinend mochte Hitler Rugby nicht, weil es ihm zu englisch war.“

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