Großbritannien verliert die Nerven

Am heutigen Dienstag stimmt das britische Parlament über das Austrittsabkommen ab. Es gilt als sicher, dass Premierministerin Theresa May krachend verlieren wird. Zu zerfasert sind die Meinungen im Unterhaus. Die Hardliner wünschen einen ungeregelten Austritt, die Europafreunde fordern ein erneutes Referendum. Es herrscht Chaos, die Nerven liegen nicht nur bei den Abgeordneten blank. Über den Zustand dieses Landes.

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An einem dieser Abende in diesen ohnehin verrückten Tagen, es war kurz vor Weihnachten und nach dem Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May, da lud Außenminister Jeremy Hunt Diplomaten zum Empfang in das prächtige Lancaster House. Umhüllt vom vergoldeten Glanz und Geist des British Empire pries Hunt das globale Großbritannien der Zukunft und auch ein bisschen sich selbst. Er schielt offensichtlich auf den Posten in der Downing Street. Dieser Club der möglichen Kandidaten wird täglich größer, wenn auch nicht besser, ermutigt von der Regierungschefin selbst, die zwar offiziell an der Macht steht, aber keine mehr hat. Hunt jedenfalls zeigte sich zuversichtlich, dass alles gut werde. Immerhin, so sagte er zuletzt im Parlament, könne man Parallelen zwischen seinem „Lieblingskinderfilm“ Lassie und dem Brexit ziehen: Der Hund habe sich „ohne jegliches Referendum“ befreit und sei nach Hause gekommen. „Das ist für uns alle eine Lektion.“ Nicht jeder Beobachter konnte ihm in seiner Argumentation folgen, aber geschenkt. Auf der Liste der potentiellen Nachfolger Mays klettert er trotzdem stetig weiter nach oben. Vielleicht liegt es daran, dass Hunt gerne seine Meinung ändert, je nachdem, wie der Wind gerade weht. Von Haus aus eher ein EU-Freund schlug er etwa zuletzt skeptische Töne an. Auch wenn ein Austritt ohne Deal „schlecht“ wäre. „Das Königreich wird einen Weg finden, zu gedeihen.“

Theresa May will verhindern, dass es zum nationalen Feldversuch kommt. Und kämpfte bis zuletzt für ihr Abkommen, das sie mit Brüssel ausgehandelt hat. Doch am heutigen Dienstag droht ihr die größte aller Niederlagen, wenn das Parlament über den Deal abstimmt. Es gilt als gesichert, dass sie zumindest im ersten Anlauf krachend scheitern wird. Fast verzweifelt beschwor sie noch einmal ihre Kollegen: Nicht nur, dass mit einer Ablehnung im Unterhaus ein Austritt ohne Vertrag ein Risiko bleibe. Noch wahrscheinlicher sei es, dass es zu „einer Lähmung des Parlaments“ komme, die riskiere, am Ende ohne Brexit dazustehen, sagte sie. Innerhalb von drei Sitzungstagen muss May nach einer Niederlage einen Plan B präsentieren. Unter Umständen bessern Brüssel und London die politische Erklärung nach, nur damit der Vertrag abermals vor dem Parlament landen kann. Und wieder grüßt das Murmeltier.

Am jenem Abend im Dezember, als Hunt im Lancaster House empfing, trafen sich nicht weit entfernt im Obergeschoss eines Pubs in Westminster auch einige der konservativen Rebellen, die aus ihrem Groll gegen ihre Chefin mittlerweile fast so etwas wie eine Marke kreiert haben. Die europaskeptischen Hardliner waren im Dezember zwar mit dem Versuch gescheitert, die Regierungschefin zu stürzen, doch es ist ihnen zu verdanken, dass die öffentliche Debatte des Königreichs zunehmend ins Extreme gerückt ist. Die Stimmung an diesem Abend war dementsprechend ausgezeichnet. Da aßen die, vornehmlich, Herren also Häppchen und soffen wie das nur die Briten können und zelebrierten im traditionellen Dreireiher ihren Widerstand. In vorderster Linie der EU-Skeptiker Jacob Rees-Mogg, der Mann aus der Vergangenheit, der so affektiert daher redet, dass mancher Zuhörer darüber häufig verpasst, welche Unwahrheiten da gerade so parfümiert verbreitet werden. „Kein Deal ist immer noch besser als ein schlechter“, sagte der Multimillionär, der angeblich einige seiner Geschäftsanteile nach Irland verlagert hat. So viel zum Vertrauen in den Brexit. Am liebsten wäre Rees-Mogg also ein Brexit ohne jegliches Austrittsabkommen. Nur raus aus der Gemeinschaft. Endlich befreit von den Ketten der verhassten EU. Danach die Sintflut. Die kommt unweigerlich.

Denn die britische Regierung hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie auf eine solche Eventualität alles andere als vorbereitet ist und ein bemerkenswertes Maß an Inkompetenz offenbart. Verkehrsminister Chris Grayling etwa beauftragte kürzlich ein Unternehmen damit, mit zusätzlichen Schiffsverbindungen die Lieferung von Waren auf die Insel zu sichern. Dover ist ohnehin überlastet, weshalb Fähren zwischen dem Hafen Ramsgate in Kent und dem belgischen Ostende Abhilfe schaffen sollten. Das entscheidende Detail, das niemandem im zuständigen Ministerium aufgefallen war: Die angeheuerte Firma verfügt nicht mal über Frachtschiffe. Und wird so schnell bis zum 29. März 2019 wohl auch keine beschaffen können. Bei Grayling handelt es sich im Übrigen um denselben Politiker, der vergangene Woche damit scheiterte, einen künstlichen Stau zu organisieren, um den Ernstfall zu simulieren. Zu der Übung rollten gerade mal 89 Lastwagen. In der Realität aber fertigt die Hafenstadt Dover an geschäftigen Tagen 10.000 Lkw ab. Es wird nun bereits gemunkelt, dass eine Spur der Autobahn demnächst zum Quasi-Parkplatz umfunktioniert werden könnte. Die Europaskeptiker bellen, diese Prophezeiungen seien reine Angstmacherei, genauso wie die Warnungen, dass neue Unruhen in Nordirland ausbrechen könnten, sollte dort wieder eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz errichtet werden. Um die zu verhindern, besteht die EU auf den sogenannten Backstop, eigentlich nur als Notfallversicherung gedacht. An ihm indes könnte der Deal am Ende scheitern, weil das Problem von vielen Beteiligten, darunter Ex-Außenminister Boris Johnson, schlicht ignoriert oder verharmlost wird. Und obendrein toben sich die Briten auf Nebenkriegsschauplätzen auf. Als um den Jahreswechsel einige Dutzend Flüchtlinge in Gummibooten über den Kanal setzten, wurde eine nationale Krise ausgerufen, zu deren Bewältigung sogar Innenminister Sajid Javid aus seinem Urlaub in einem afrikanischen Luxusressort herbeieilte.

Und das alles nicht mal 80 Tage vor dem offiziellen EU-Abschied. Der Gesundheitsminister Matt Hancock findet es derweil amüsant, sich als „größter Kühlschrankeinkäufer der Welt“ zu bezeichenen. Mindestens sechs Wochen lang sollen in den Krankenhäusern des Landes Medikamente für den Fall vorgehalten werden, dass es durch einen ungeregelten Brexit zu Lieferschwierigkeiten kommt. Patienten, Ärzte und Pfleger sehen eine Katastrophe auf sich zukommen, Kühlschränke hin oder her. Auch Supermärkte beginnen, Vorräte zu horten, und die Automobilindustrie sammelt Einzelteile an. Wie zur Beruhigung der Nation versicherte die Regierung, dass tausende Soldaten in Alarmbereitschaft stünden, die nach einem chaotischen Brexit für Ordnung sorgen sollen.

In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit, könnten all diese Episoden vielleicht als lustig wahrgenommen werden. Oder zumindest in ihrer Absurdität ein Lehrstück sein mit dem Titel „Wie sich ein Land selbst zerlegt“. Doch auf der Insel lacht niemand mehr. Wer durch das Königreich reist, trifft vielmehr auf eine tief gespaltene Bevölkerung, die ihre Meinung kaum geändert hat. Allein die täglichen Auseinandersetzungen vor dem Westminster-Palast zwischen Pro-EUlern und Brexit-Befürwortern zeigen, wie aufgeheizt die Stimmung jetzt schon ist. „Warum wird unser Votum nicht respektiert?“, kreischt am Montagmittag eine Frau mit Union-Jack-Flagge in der Hand. „Wir werden unserer Zukunft beraubt“, schimpft dagegen ein junger Mann vor einem Stop-Brexit-Poster. Dazwischen mischen sich mittlerweile Faschisten, die Journalisten Prügel androhen oder Abgeordnete wie Anna Soubry als „Nazi“ und „Verräter“ anfeinden. „Das ist es, was aus unserem Land geworden ist“, resümierte die konservative Parlamentarierin. Sie kämpft für ein erneutes Referendum, ungeachtet der Warnungen, dass ein solches weitere Dämonen entfesseln könnte. Weshalb May kontinuierlich bekräftigt, ihr Land werde den EU-Austritt weder verschieben noch eine zweite Volksabstimmung anberaumen. Setze man das Ergebnis nicht um, würde man dem Vertrauen der britischen Öffentlichkeit in die Demokratie „katastrophalen Schaden“ zufügen, sagte die Premierministerin gestern. Zurecht?

Vergangene Woche zeigte das britische Fernsehen das Dokudrama „Brexit: The Uncivil War“. Es handelte vom Wahlkampf vor der Volksabstimmung am 23. Juni 2016. Der Chefstratege der „Vote-Leave“-Kampagne, Dominic Cummings, stand im Zentrum des Films, gespielt vom Schauspieler Benedict Cumberbatch. Die Briten vor dem Bildschirm durchlebten noch einmal die Kampagne, den „barbarischen Krieg“, und ein bisschen fühlte es sich an, als ob man die traumatische Phase noch einmal erfahre. Es schmerzte. Und Twitter quoll geradezu über vor Leidensbekenntnissen. Unabhängigkeit. Souveränität. Kontrolle. Es sind jene Schlagworte, die einmal übergroße Versprechen in sich trugen und nun inhaltsleer und überstrapaziert vom Brexit-Projekt hängen wie ausgeleierte Unterhosen an ausgemergelten Körpern. Man hört sie trotzdem noch immer wie in einer Dauerschleife.

Wenn Reporterteams aus London ins Land ausschwirren, treffen sie Menschen, die vom Theater in der Hauptstadt „die Schnauze gestrichen voll haben“, wie die 66-jährige Judith aus der Stadt Boston, einem Brexit-Zentrum, sagt. „Warum sind wir bis heute noch nicht ausgetreten? Ich will, dass die Politik das Ganze endlich hinter sich bringt.“ Das Ganze ist der Brexit. Etliche Menschen hatten damals genug von Politikern und haben es jetzt erst recht. Die europaskeptischen Kräfte fordern vielmehr, dass ihre Wahl schnellstmöglich umgesetzt wird. Anders die Brexit-Gegner. Einige würden sich mit einer soften Version der Scheidung zufrieden geben. Viele wünschen mittlerweile aber ein zweites Referendum – mit der selbstbewussten Gewissheit, dass es in ihrem Sinne ausgehen würde, auch wenn sie kaum neue Argumente für den EU-Verbleib präsentieren, außer jenes, dass die Wähler bei der ersten Volksabstimmung getäuscht wurden. Für einen Kompromiss sind sie, wie generell der Großteil der Parlamentarier, nicht zu gewinnen. Sackgasse.

Zum informellen Treffen der Brexiteers im Pub erschien auch der konservative Abgeordnete Mark Francois, der erst in der vergangenen Woche kurz Berühmtheit erlangte, weil er im Parlament beinahe einen Nervenzusammenbruch erlitt. Das Thema EU ist auf der Insel ein verlässlicher Aufreger. Und es darf schon als Leistung von Theresa May anerkannt werden, einen Deal präsentiert zu haben, der die Gemüter noch mehr erregt als die eigentliche Europafrage. Zum Start der fünftägigen Debatte um den Vertrag nämlich tickten etliche Abgeordneten in sehr unenglischer Manier aus. Szenen spielten sich ab, die man im ehrwürdigen Parlament so noch nicht gesehen hatte. „Bullshit“, schrie ein Volksvertreter, nachdem der Unterhaus-Sprecher John Bercow einen Änderungsantrag zugelassen hatte, der die Regierung zwingt, im Fall der als sicher geltenden Niederlage morgen Abend in lediglich drei Sitzungstagen einen Alternativplan zu präsentieren. Einige Abgeordnete warfen Bercow vor, er habe die Regeln des Parlaments verletzt. Und Mark Francois unterstellte dem Sprecher, er sei parteiisch. Francois, muss man wissen, kann sich sagenhaft in Rage reden. An besagtem Pub-Abend im Dezember etwa ätzte er gegen die EU, als handele es sich um eine Diktatur. So viel Wut. So viel Hass. „Wir werden niemals etwas akzeptieren, das uns länger nur im Geringsten an die EU bindet.“ Wenn er EU sagt, klingt das bei ihm immer per se wie ein Schimpfwort.

Doch während er und seine Kollegen am europaskeptischen Ende des Spektrums meutern, kämpfen die Europafreunde auf der anderen Seite der Debatte für ein erneutes Referendum. In der Mitte zerfasern sich die Meinungen, sowohl bei den Tories als auch in der oppositionellen Labour-Partei. In einer Blase der EU-Ahnungslosigkeit können sich alle erzählen, was sie wollen. Ein bisschen ist das, als ob die Politik in ihrer Parallelwelt „Wünsch dir was“ spielt und auf Durchzug schaltet, wenn jemand Fakten einwirft. Spielführer ist ausgerechnet Labour-Chef Jeremy Corbyn, der offenbar bis heute nicht weiß, was der Binnenmarkt genau bedeutet oder was die Zollunion mit der EU beinhaltet. In ihrer Ignoranz unterscheiden sich die Politiker von Labour keineswegs von jenen der Tories. Der lebenslange Europaskeptiker Corbyn verliert sich denn auch lieber im Nebulösen und spekuliert auf Neuwahlen. Was diese bringen sollen, wenn der Vorsitzende den Brexit ebenfalls unterstützt, bleibt vorerst sein Geheimnis.

Es ist dieser Tage schwer, das Vereinigte Königreich zu verstehen, das, so scheint es, einfach nicht mehr verstanden werden will.

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