Schlachtfeld Schottland

Glasgow

Am Donnerstag wählen die Briten ein neues Parlament. Der Schottischen Nationalpartei (SNP) unter Politstar Nicola Sturgeon wird im hohen Norden ein Erdrutschsieg prophezeit, der sozialdemokratischen Labour-Partei droht ein historischer Absturz. Ein Besuch in der bisherigen Labour-Hochburg Glasgow.

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Er öffnet die Haustür in schwarzer Jogginghose, mit Bier in der Hand und Silberkette um den Hals. Der süßliche Geruch von frischgekochtem Meat Pie dringt aus dem Innern. Der Schotte wurde offenkundig beim Abendessen von dem klingelnden Mann gestört. „Mein Name ist Willie Bain, ich bin Ihr lokaler Kandidat, wie geht es Ihnen?“, stellt sich der ungebetene Gast vor und spult sein Sprüchlein herunter. Er erntet ein spöttisches Grinsen. „Ja, ja, ich weiß, wer Sie sind“, unterbricht ihn der Mann aus Nummer 95 und pult sich mit seinem Zeigefinger Essensreste zwischen den Zähnen hervor. „Labour!“, sagt er, und es klingt wie ein Schimpfwort.
Willie Bain lässt sich nicht beirren. Der 42-Jährige will an diesem Montagabend die sozialdemokratische Labour-Partei vor dem Untergang in Schottland retten. Hier, in der Mittelklasse-Wohngegend im Nordosten Glasgows, wo sich verwechselbare Häuser aus rotem Backstein aneinanderreihen, ist der richtige Ort.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Am 7. Mai stimmen die Briten über ein neues Parlament ab, und Labour droht ein Debakel im hohen Norden. Kurios daran ist: Die Partei hätte trotzdem eine Chance auf den Machtwechsel in London.

Die Umfragen prophezeien, dass keine der beiden großen Parteien die absolute Mehrheit erreichen wird, also auch nicht die Konservativen von Premier David Cameron. Der hat angekündigt, im Falle einer Wiederwahl eine Volksabstimmung über einen möglichen Austritt der Briten aus der EU abhalten zu lassen – es steht also viel auf dem Spiel. Bleibt nur die Möglichkeit einer Koalition, wie derzeit zwischen Tories und Liberaldemokraten, oder ein Duldungs-Bündnis. So oder so: Die Entscheidung dürfte in Schottland fallen.

Deshalb zieht Willie Bain jeden Tag in den Kampf auf das „Schlachtfeld“, wie Medien Schottland bereits nennen – mit einem Stapel Flugblätter und demonstrativer Zuversicht. Unter normalen Labour-Umständen müsste er sich nicht so ins Zeug legen. Vor fünf Jahren wurde er mit knapp 70 Prozent zum Abgeordneten für den Wahlkreis Glasgow Nord-Ost gewählt. Der Kandidat der Schottischen Nationalpartei (SNP) kam gerade einmal auf 14 Prozent. Die drittgrößte Stadt des Königreichs galt immer als Bastion von Labour.

Doch nichts ist mehr wie es war, seit die Schotten im Herbst in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit entscheiden durften und die SNP trotz Niederlage – sie machte sich für die Abspaltung stark – seitdem auf dem Siegeszug ist. Die Mitgliederzahlen haben sich in den vergangenen sieben Monaten auf mehr als 100.000 vervierfacht. „Es wird knapp“, befürchtet Bain.
Von einem Erdrutschsieg für die SNP gehen dagegen Experten aus. Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts, bei dem der Kandidat mit den meisten Stimmen den Wahlkreis für sich entscheidet und alle anderen unter den Tisch fallen, wird den Nationalisten zugetraut, bis zu 59 der 59 schottischen Sitze im Londoner Parlament zu gewinnen – eine Katastrophe für die Sozialdemokraten.

Da es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Alleinregierung geben wird, würden die eigensinnigen, vom Nordsee-Öl verwöhnten Schotten viel Einfluss auf die Zusammensetzung des künftigen Kabinetts bekommen. Labour-Chef Ed Miliband hat zwar eine formelle Koalition mit der SNP ausgeschlossen. Er könnte sich jedoch von den Schotten in einer Minderheitsregierung dulden lassen und zudem die Waliser von Plaid Cymru sowie die Liberaldemokraten ins Boot holen. Die SNP würde so in die Rolle des Königsmachers schlüpfen. Es ist ein Szenario, vor dem die Konservativen unaufhörlich warnen. Erst kürzlich bezeichnete Premierminister Cameron ein solches Bündnis als einen „Pakt, der in der Hölle gemacht“ wurde. Innenministerin Theresa May sagt, eine Verbindung würde die „größte Verfassungskrise seit der Abdankung von König Ed- ward VIII.“ im Jahr 1936 auslösen. Die Konservativen sind nervös, sie stehen in Bezug auf Koalitionspartner relativ alleine da.

Michael Sheridan fährt in seinem Taxi durch den dichten Verkehr Glasgows. Früher drang hier aus den Hochöfen ein dunkler Schleier aus Staub, der zum Bild der Industrie- und Arbeiterstadt gehörte wie die zahlreichen Werften, Stahl- und Eisenwerke, die Glasgow einmal zur zweitwichtigsten Stadt Großbritanniens aufsteigen ließen. Das ist lange her. Bald rutschte das Land von einer Wirtschaftskrise in die nächste, der Niedergang Glasgows folgte. In den 1970ern und 1980ern unter Premierministerin Margaret Thatcher wurde die Schwerindustrie fast vollständig geschlossen. Die Dienstleistungsbranche sollte stattdessen den notwendigen Aufschwung bringen.

Bis heute haben die meisten Schotten den Konservativen die Politik der Deindustrialisierung nicht verziehen. Lange dominierten Arbeitslosigkeit und Armut, in einigen Stadtvierteln hat sich die Trostlosigkeit bis heute festgesetzt. Taxifahrer Sheridan wohnt in Govan, einem Teil Glasgows, wo einst hunderttausende Arbeiter in den großen Werften am Ufer des Clyde Kriegs- und Handelsschiffe bauten. Sein Vater hat dort gearbeitet, sein Großvater auch. Alle wählten Labour, das gehörte dazu. „Wenn es in den Werften einen Tory-Anhänger gab, kannte den jeder“, sagt er in einem Schottisch, das mit Englisch nicht mehr viel gemeinsam hat.

Der 56-Jährige führte die alte Familientradition weiter. Am 7. Mai aber will er für die SNP stimmen. „Ich bewundere deren Chefin Nicola Sturgeon und ihren Vorgänger Alex Salmond dafür, was sie für Schottland getan haben.“ Sie zeigten „Leidenschaft für die Schotten“. Er fährt an tristen Wohnblöcken vorbei und an verlassenen Docks, wo heute nur noch Müll vergammelt.

„Die SNP wird in Schottland als die bessere Regierungspartei angesehen“, sagt Jan Eichhorn, Dozent an der Universität Edinburgh. Ihr werde abgenommen, dass sie sich für die schottischen Belange einsetzt. „Labour glauben das die meisten nicht“, hat der Wissenschaftler festgestellt. Hinzu komme die Person Nicola Sturgeon. Die 44-Jährige gilt als Star des Wahlkampfs. Gleichwohl genießt sie nicht mehr nur in Schottland Beliebtheit. Immer wieder erkundigen sich sogar Engländer, ob sie nicht doch die charismatische Politikerin wählen dürfen. Sturgeon präsentiert sich als Gegenentwurf zum Westminster- Establishment, das auf Eliteschulen „gezüchtet“ und durch andere Eliten gefördert wurde.

„Sie würde uns nie verkaufen“, sagen Mary und Ronnie Russell. Das Ehepaar hat den Eindruck, nicht mehr in der privilegierten Gedankenwelt der Politiker in London vorzukommen. Die beiden leben im Norden Glasgows. Mittelklasse. Wie für viele andere Briten ballen sich ihrer Meinung nach zu viel Einfluss und Reichtum um die Metropole London, um begüterte Grafschaften wie Oxfordshire oder den Süden Englands. Wäre es eine Alternative, für Labour-Chef Miliband zu stimmen, um die verhassten Konservativen von der Downing Street fernzuhalten, wie es die Sozialdemokraten gebetsmühlenartig propagieren? „Wir haben so viele Jahre Labour gewählt und am Ende standen wir meistens doch mit einer konservativen Regierung da – nicht wahr, my dear?“, wendet sich Ronnie an seine Frau. Sie verdreht die Augen.
Zwei Hunde wuseln zwischen den Beinen herum, in der Vitrine stehen Whisky-Gläser aus Kristall wie Ausstellungsstücke in einem Museum. Mary ist nicht mehr gut zu Fuß, deshalb sitzt die 77-Jährige in einem braunen Ledersessel. Sie trägt Plüschhausschuhe, an jedem Finger blitzt mindestens ein goldener Ring. Die Wahlkarte lehnt auf dem Telefontisch an einer roten Vase, als bräuchte das Paar eine Erinnerung. Dabei bestimmt die Politik seit Monaten die Tischgespräche. Auch wenn die Rentnerin ihr ganzes Leben glühend heiße Labour-Anhängerin war, ja sogar Parteimitglied, jetzt ist sie nur noch angewidert von den Sozialdemokraten.

Wissenschaftler Eichhorn hat den Niedergang von Labour in Schottland begleitet. Dass die Partei für Skandale sorgte und dann auch noch im Vorfeld des Referendums mit den Konservativen gemeinsame Sache gemacht hat, nehmen ihr zahlreiche Schotten krumm. „Sie gingen mit dem Feind ins Bett“, so sehen es viele. „Das Gefühl verfestigt sich, dass Labour nicht so viel besser ist als die Tories“, sagt Eichhorn.

Das politische Interesse jedoch ist groß. Das spürt auch Labour-Mann Bain. Er will aus den vergangenen Jahren gelernt haben. Aus den Fehlern, die die Abspaltungsgegner der großen Parteien gemacht haben, indem sie nur mit negativen Argumenten und Warnungen die schottischen Nationalisten angingen. „Wir müssen die Herzen gewinnen, dafür braucht es eine positive Kampagne“, sagt Bain. Er verspricht bei einem Labour-Sieg einen Anstieg des Mindestlohns sowie der Staatsrente.
Bain bleibt jetzt vor einem Eckhaus stehen, dreht sich um und schmunzelt. „Hier wohnt David Cameron“, sagt er. Es ist die Hausnummer 10 – wie die offizielle Residenz des Premiers David Cameron in der Downing Street. Aber Willie Bain winkt ab: „Dieser Cameron wählt Labour.“ Er wirft trotzdem ein Flugblatt durch den Briefschlitz.

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