Schicksalswahl für Europa?

Tower Bridge

Heute wählen die Briten und in Deutschland hält sich das Interesse spürbar in Grenzen. Schade eigentlich. Dabei würden viele die Abstimmung als Schicksalswahl bezeichnen, auch für Europa. Leider spielte die EU hier aber kaum eine Rolle im Wahlkampf. Es ist noch immer schwierig, das Verhältnis zwischen Briten und Europa.

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Wenn die Briten von Europa reden, dann meinen sie zumeist nicht sich selbst. Europa, das sind Deutschland, Frankreich oder Spanien. Irgendwie eine andere Welt, zu der die Menschen auf der Insel nicht ganz dazu zu gehören scheinen. Auch wenn es nur gut zwei Stunden mit dem Zug von London nach Brüssel dauert, dort sitzt für zahlreiche Briten das Monster. Die EU als Ort der Bevormundung, der Gleichmacherei, der komplizierten Bürokratie: Brüssel verkörpert vieles von dem, was die Insulaner zutiefst verachten. So schimpft man gerne über Staubsauger-Regularien oder noch lauter als anderswo über Einmischungen in nationale Belange.

Seit Wochen ist das Thema Europa aus dem Wahlkampf so gut wie verschwunden. Die großen Parteien, Konservative und Sozialdemokraten, liegen bis zum heutigen Wahltag laut Umfragen etwa gleichauf und weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Wer regieren will, muss Bündnisse eingehen – ein Umstand, der auf der Insel noch immer Verwirrung stiftet. Das Mehrheitswahlrecht sorgte dafür, dass seit dem Zweiten Weltkrieg stets eine der beiden Volksparteien allein regieren konnte. Bis 2010. Dann mussten die Konservativen eine Koalition mit den Liberaldemokraten bilden. Ein Szenario, das auch jetzt in Frage kommt, wahrscheinlich müssten die Tories für eine Mehrheit dann noch die nordirische DUP ins Boot holen. Auch wenn jüngste Umfragen prophezeien, dass die Konservativen unter dem amtierenden Premierminister David Cameron mehr Sitze als Labour gewinnen, sieht die Lage für Oppositionsführer Ed Miliband etwas günstiger aus. Er könnte mit den Liberaldemokraten koalieren und sich von der linksliberalen Schottischen Nationalpartei (SNP), die voraussichtlich drittstärkste Kraft wird, obwohl sie nur in Schottland antritt, in einer Minderheitsregierung dulden lassen.

Die Briten stimmen heute auch über die Richtung ab, in die das Königreich innerhalb Europas gehen soll. Das Wort Brexit hängt wie ein Damoklesschwert über dem Königreich. Cameron hat für den Fall einer Wiederwahl versprochen, die Bevölkerung 2017 über die Mitgliedschaft in „einer reformierten EU“ entscheiden zu lassen. Miliband hat sich dagegen gegen einen Volksentscheid ausgesprochen. Wäre bei einem Sieg der Sozialdemokraten Großbritanniens Verbleib in der EU gesichert? Robin Niblett, Chef der Londoner Politik-Denkfabrik Chatham House, ist überzeugt: „Ein Volksentscheid in den nächsten zehn bis 15 Jahren ist unausweichlich.“

Auch Simon Hix, Professor für Europapolitik an der London School of Economics and Politics (LSE), hält es für einen Trugschluss, dass mit einem Labour-Wahlsieg das „Brexit“-Szenario vom Tisch wäre. Es gebe auch innerhalb der Sozialdemokraten „keinen pro-europäischen Konsens“. Dass Europa während des Wahlkampfs kaum eine Rolle gespielt hat, schiebt er auf das fehlende Interesse auf der Insel. „Es ist einfach nicht so wichtig für die Wähler.“ Dabei versteckt sich das Thema lediglich hinter dem Streitpunkt Immigration. Im Zuwanderungsland Großbritannien stellt sie eines der Top-Themen dar und wird von den derzeit noch regierenden Konservativen gegeißelt, ganz zu schweigen von der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip.
Die Diskussion, die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa aufzuweichen, wurde in den vergangenen Jahren leidenschaftlich geführt, obwohl ein solcher Schritt aufgrund der Gegenwehr der anderen EU-Mitglieder ausgeschlossen scheint.

Würde sich Großbritannien tatsächlich von der EU verabschieden, wäre das eine Katastrophe für Europa, insbesondere für die Bundesrepublik. Deutschland hat mit London einen liberaleren und atlantischen Partner, die Länder sind wichtige Alliierte in der EU, beide unterstützen den Freihandel und treten für eine Stärkung des Binnenmarkts ein. Krisen und Kriege wie in Syrien, im Irak, in Russland oder Afrika rütteln an der Stabilität Europas und erfordern Einheit statt Trennung.

Dabei ist die Gefahr, dass Großbritannien versehentlich austritt, real. Cameron könnte bei einer Wiederwahl zum Verlierer seiner eigenen Rhetorik werden. Eigentlich wollte er mit dem Referendums-Versprechen nur den Aufstieg der Rechtspopulisten verhindern und den europaskeptischen Flügel in den eigenen Parteireihen beruhigen. Doch mit seinem Versuch eines europapolitischen Befreiungsschlags ist er grandios gescheitert. Eine weitere Gefahr: Sollten sich die Briten in einem Votum gegen die EU entscheiden, könnte das eine Kettenreaktion im hohen Norden auslösen. Die eher europafreundlichen Schotten würden dann vermutlich ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum fordern und sich vom Königreich abspalten – das erklärte langfristige Ziel der SNP.

Obwohl laut Umfragen die Zustimmung zur EU so hoch wie lange nicht ist, kochen die Diskussionen über Europa immer wieder über. Auf der Insel kann die Union nur mit wirtschaftlichen Argumenten gewinnen, wie schon vor 42 Jahren, als die Briten der Wirtschaftsgemeinschaft EWG beitraten. Bereits damals fielen politische Gründe durch, das hat sich kaum verändert. Erst kürzlich hat eine Studie herausgefunden, dass ein Brexit die Briten mehr als 300 Milliarden Euro kosten könnte. Wirtschaftliche Bande machen aus einer Vernunftehe aber noch keine Liebe. Europa bleibt das unpopuläre Gebilde. Das liegt vor allem in der Historie begründet. So war das Königreich nie von einer Fremdmacht besetzt, anders als in Deutschland, Griechenland oder Spanien verlangte kein Ende einer Diktatur einen Neuanfang. Die Briten hatten nicht das Gefühl, die Vergangenheit überwinden zu müssen.

Egal, wer nach der heutigen Wahl in Downing Street regiert, das Thema EU wird das Königreich weiterhin beschäftigen.

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