Trauma der Briten

Vor 25 Jahren starben 96 Menschen während eines Fußballspiels des FC Liverpool im Hillsborough-Stadion in Sheffield. Noch immer sitzt der Schock bei den Menschen in Großbritannien tief, auch wenn endlich die Frage der Schuld geklärt ist. 

*

96. 25 Jahre. Nur diese beiden Daten scheinen in der riesigen Choreografie auf, die Fans des FC Liverpool auf der Tribüne zeigen. 96 Tote. Vor 25 Jahren. Die Fußballer unten auf dem Feld tragen Trauerflor. Dann wird es für eine Minute ganz still. Totenstill. Die Menschen haben Tränen in den Augen. Viele von ihnen, die in ihren roten Trikots zum Spiel am vergangenen Sonntag gekommen sind, haben vor 25 Jahren ihre Liebsten verloren. Die Stadionkatastrophe von Hillsborough wurde für das ganze Land zum Trauma. Der 15. April 1989 ging in die Sportgeschichte ein. Er sollte den Fußball in England für immer verändern.

1989: Trevor Hicks, seine Frau Jenny und die Töchter Sarah und Victoria machen sich an jenem Samstagmorgen auf den Weg nach Sheffield, um sich das Pokal-Halbfinale des FC Liverpool gegen Nottingham Forest anzuschauen. Sie freuen sich auf den Familienausflug. Die Sonne scheint, am Straßenrand vor dem Hillsborough-Stadion verkauft ein Händler Sonnenbrillen für ein Pfund pro Stück. Die vier reihen sich ein in den Strom tausender Menschen, die sich gen Stadioneingang bewegen. Darunter befinden sich auch der 18 Jahre alte James Aspinall und sein 17-jähriger Freund Graham Wright. Wenn die beiden Teenager die zahlreichen Leute beobachten, die noch auf der Suche nach Tickets sind, können sie ihre Aufregung kaum zurückhalten. Seit Wochen ist das Spiel ausverkauft. Und sie sind dabei!

Der Andrang vor dem Stadioneingang nimmt zu. Um Ordnung in das Chaos zu bringen, entscheidet sich der verantwortliche Polizist, ein Tor, das eigentlich als Ausgang diente, zu öffnen. Gate C hat jedoch keine Drehkreuze, die wie tropfende Wasserhähne die Menschen nacheinander einlassen. Gate C ähnelt einem gebrochenen Damm. Hunderte Menschen stürmen auf einmal ins Stadioninnere.

15 Uhr. Anpfiff. Auf geht’s, Jungs. Die Fans fiebern mit ihren Spielern mit, konzentrieren sich auf das Geschehen auf dem Platz. Der Schuss eines Liverpoolers landet an der Latte. „Ooohhh“, hallt es durch die Arena. Da kämpfen bereits hunderte Menschen ums Über- leben. Da weiterhin Fans auf die Tribüne drängen, werden jene im unteren Teil der Ränge immer stärker gegen die eisernen Zäune gepresst, darunter auch die 19-jährige Sarah Hicks und ihre 15-jährige Schwester Victoria. Panik. Atmen. Eng. Luft. Hilfe. Die ersten Zuschauer werden erdrückt. „Die Leute wurden blau. Ich fühlte, wie Menschen unter der Menge an meinen Knöcheln zogen“, erinnert sich einige Jahre später bei der BBC ein Brite, der das Unglück überlebte. In jenen Momenten geht das Sterben in den Anfeuerungsschreien unter. Obwohl die Polizei die Szenen beobachtet, braucht sie quälend lange Minuten bis sie sich dazu durchringt, die Tore zum Spielfeld hin zu öffnen. Erst als Fans voller Todesangst über den Zaun klettern und plötzlich auf dem Rasen liegen, wird allen klar, dass gerade etwas Schreckliches passiert.

Sechs Minuten nach Beginn pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab. 94 Menschen sterben im Stadion, 766 Fans werden zum Teil schwer verletzt, zwei weitere Männer erliegen später ihren Verletzungen. Unter den Toten sind auch die Teenager Sarah und Victoria Hicks. Das jüngste Opfer ist der zehnjährige Jon-Paul Gilhooley. Sein Cousin, der Kicker Steven Gerrard, spielt seit seiner Kindheit für den FC Liverpool und widmete seine Karriere dem gestorbenen Verwandten.

Nach der Katastrophe pilgern tausende Menschen zur Unglücksstätte an die Anfield Road in Liverpool. Schals hängen am Stadionzaun, der Rasen ertrinkt in einem Blumenmeer. 25 Jahre nach der Tragödie erinnern ähnliche Szenen an den Tag am 15. April 1989, der nicht nur den FC Liverpool ändern soll, der im Anschluss sein Wappen anpasst. Zwei Fackeln dienen als Andenken an das Unglück, hinzu kommt der Schriftzug mit dem berühmten Titel der Club-Hymne, „You’llnever walk alone“. Auch der Fußball in England zieht seine Lehren. Die Stehplatztribünen werden abgeschafft. Zudem werden die Zäune in den Innenräumen der Stadien verboten.

Sehr viel länger dauerte es, bis die Wahrheit über die Schuldigen ans Licht kam. 23 Jahre lang mussten die Angehörigen hören, dass die Opfer selbst für ihren Tod verantwortlich gewesen sein sollen. Trevor Hicks, der seine beiden Töchter verlor, kämpfte mit der Selbsthilfegruppe „Hillsborough Family Support Group“ um die Aufarbeitung des Unglücks. Es ging um die Polizeiverantwortlichen, die die Fans nicht in die leeren Bereiche des Stadions umleiteten und Rettungskräfte zu spät ins Stadion ließen. Die Beamten vertuschten mit gefälschten Beweisen ihr Versagen. Ein Report nach 23 Jahren sorgte endlich für Gerechtigkeit. Daraufhin kassierte der Londoner High Court die alten Urteilssprüche.

Der FC Liverpool gewann damals den Pokal. Im folgenden Jahr wurde die Mannschaft Meister der englischen Liga. Seitdem warten die Fans auf einen ähnlichen Erfolg. Diese Saison könnte es soweit sein. Der Trainer Brendan Rogers hat die Titeljagd den Opfern des 15. April 1989 gewidmet. „Ich weiß, dass im Himmel 96 Menschen sind, die dieses Team immer unterstützen werden.“

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.