Die stillen Stunden Israels

Jom Kippur2

An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, hält das Land inne während die Menschen um Vergebung beten. Diese 25 Stunden zeigen wie Israel den Spagat zwischen Tradition und Moderne schafft. Doch der Feiertag steht auch für das größte Trauma des Landes.

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Drei große Torarollen werden durch die Reihen getragen und wie ein Pokal Richtung Decke gestemmt. Ihre Träger kommen nur langsam voran, denn die Synagoge in Tel Aviv ist so voll wie sonst das ganze Jahr über nicht. Es ist Jom Kippur, der höchste Feiertag im Judentum.

Die Israelis beten, singen und lesen im Gebetsbuch. Bis hinaus stehen sie in der Synagoge, die nur einige Schritte vom Strand entfernt ist. Die Männer versuchen die aufwändig geschmückten Torarollen zu berühren, einige küssen sie. Die Frauen, die in einem kleineren Teil des Raumes daneben stehen, werfen dem ersten Teil der hebräischen Bibel Handküsse zu, anzufassen bekommen sie das heiligste Buch im Judentum nicht. Durch eine Holzverkleidung und weiße Spitzenvorhänge sind sie getrennt von ihren Ehemännern, Söhnen, Vätern und Brüdern. Was sie eint: Sie sind fast alle in weiß gekleidet, ein Ausdruck der Reinheit von Sünden. Dafür steht der Versöhnungstag Jom Kippur, an dem Juden auf der ganzen Welt vor allem beten und fasten.

Mit der Abenddämmerung am vergangenen Freitag hat der Feiertag begonnen. Bereits am Morgen drängten sich die Menschen auf dem Markt in Tel Aviv, kauften Obst, Gemüse und Wasser und hasteten mit ihren vollen Einkaufstüten nach Hause. Denn ab dem späten Nachmittag kam das Leben in Israel zum Erliegen. Arbeitsruhe. Geschäfte und Tankstellen, Marktstände und Cafés, sie alle schlossen für 25 Stunden. Fernsehsender und Radiostationen stellten den Betrieb ein und Busse, Züge und Flugzeuge standen plötzlich still. Selbst Autos fahren an Jom Kippur nicht. Dafür umso mehr Fahrräder.
Tausende Menschen waren ab Freitagabend auf den Straßen Tel Avivs unterwegs, viele auf dem Weg zur Synagoge, säkulare Israelis spazierten durch die Stadt und genossen die wie verzauberte Atmosphäre. Und während die Ampeln noch regelmäßig von Rot auf Grün und von Grün auf Rot schalteten, freuten sich die Kinder ob der neuen Spielwiese.
Israels Metropole ist auf einmal stumm – als ob jemand die Pausentaste gedrückt hätte. Ohne Autolärm, Flugzeuglärm, Motorradlärm. Es ist eine einzigartige Geräuschlosigkeit. Und es gibt sie in diesem Ausmaß nur in Israel. Lediglich gedämpfte Stimmen durchbrechen in jenen Stunden die Stille, manchmal das Surren einer Klimaanlage, auf vielen Straßen ist es ein Fest der Fahrräder. Wer nicht in der Synagoge war, nutzte den Tag für Spaziergänge oder Fahrradtouren mit der Familie.

Tel Aviv-Jaffa hat über 400 000 Einwohner und nur Jom Kippur schafft es, den schnellen Zeitgeist, der vor allem in Tel Aviv herrscht, zum Innehalten zu bringen. Der coole Lebensstil, die schicken Bars und die unzähligen Restaurants geben für einen Moment Ruhe.

Der Feiertag hat eine Jahrtausende alte Tradition und wird im siebten Monat des jüdischen Kalenders begangen. Er bildet den Höhepunkt und Abschluss der Zeit der Reue und Umkehr, die bereits zehn Tage zuvor mit dem Neujahrsfest begonnen hatte. Diese 25 stillen Stunden im Jahr zeigen, wie Israel darauf bedacht ist, trotz aller Moderne und trotz des seit Jahren anhaltenden Wirtschaftswachstums die Wurzeln und Traditionen zu bewahren. Hier wird zugleich das Neue gefördert und das Alte gefordert. Israel schafft den Spagat.

An Jom Kippur geht es darum, kollektiv um die Vergebung der Sünden und die Versöhnung mit Gott zu beten. Über die Hälfte der Israelis fasten in dieser Zeit. Besonders Gläubige verbringen beinahe den gesamten Jom Kippur in der Synagoge, weniger fromme Juden schauen lediglich kurz vorbei.

Gleichwohl steht Jom Kippur auch als Symbol für ein Trauma Israels. Vor 40 Jahren nutzten die Nachbarländer Syrien und Ägypten den Stillstand im Land zu einem militärischen Überraschungsangriff. Am 6. Oktober 1973 begann der Jom-Kippur-Krieg und für einige Stunden sah es so aus, als ob Israel überrannt würde, da sich der Großteil der Soldaten wegen des Feiertags auf Heimaturlaub befand.

Und dann ist Samstagabend. Es wird dunkel. Restaurants öffnen und sofort sind die Stühle im Außenbereich besetzt, aus den zurückkehrenden Autos dringt laute Radiomusik, Motorradfahrer lassen ihre Reifen quietschen und Busse ächzen wieder durch den Stadtverkehr.

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