Fehlendes Mitgefühl

Dover

Die britische Flüchtlingspolitik ist eine Katastrophe. Und viele Medien heizen die Stimmung gegen Flüchtlinge auf eine beschämende Art und Weise an. Dabei schaffen es vergleichsweise wenige Menschen auf die Insel.

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Wann hat Großbritannien eigentlich sein Mitgefühl verloren? Wann wurde aus dem liberalen, toleranten Land ein Staat, in dem Flüchtlinge als Schnorrer bezeichnet und mit Insekten gleichgesetzt werden? Warum will das auf die eigene Vergangenheit so stolze Königreich vergessen, wie es verfolgten Juden und afrikanischen Flüchtlingen ein neues Zuhause gegeben hat?

„Großbritannien ist kein sicherer Hafen für Migranten“, polterte Premierminister David Cameron und kündigte härtere Maßnahmen gegen illegale Einwanderung an. Abschreckung lautet seine Lösung in der Krise. Als ob sich Menschen, die von Verzweiflung getrieben sind, durch höhere Zäune und mehr Hundestaffeln aufhalten ließen. Oder von strengeren Gesetzen und Regelungen bei der Wohnungssuche auf britischem Boden. Viele der etwa 3000 Menschen in Calais haben Terror, Krieg, Elend und politische Repression hinter sich. In Syrien und im Irak. Im Sudan und in Eritrea. Vor dem Eurotunnel, dem Nadelöhr der Flüchtlinge auf der letzten Etappe ihrer Reise, haben sie keine Angst. Viele können Englisch, haben bereits übergesiedelte Verwandte und hoffen auf einen Job auf der Insel, wo die Wirtschaft im Vergleich zu Südeuropa wächst. Es gibt kein Meldegesetz und keine Ausweispflicht, die Asylverfahren laufen schneller ab – ein Eldorado erwartet sie im Königreich aber keineswegs.

Während David Cameron eine scharfe Rhetorik bemüht und die Flüchtlinge vor Calais vor der Einreise warnt, hetzt ein Großteil der britischen Presse auf teilweise beschämende Art und Weise gegen die Menschen in Not. Die Boulevardzeitung „Daily Mail“ schrieb: „Wir haben Hitler am Einzug gehindert. Warum schaffen es unsere kläglichen Politiker nicht, ein paar Tausend erschöpfte Flüchtlinge abzuwehren?“ Ein anderes Blatt, der „Daily Express“, forderte: „Setzt die Armee ein.“ Nur so könne die „Invasion“ verhindert, ja, der „Migrationswahnsinn“ gestoppt werden. Die Rechtspopulisten um Nigel Farage, Chef der Anti-EU-Partei Ukip, nehmen diese Steilvorlagen gerne auf und setzen auf Panikmache.

Natürlich muss bei aller Kritik eingeschränkt werden: Nicht jeder Brite unterstützt den harten Kurs der Tories in der Flüchtlingspolitik. Aber das Mitleid vieler Schreihälse, auch in den Regierungsreihen, gilt leider allzu oft nicht den Flüchtlingen, sondern den armen Urlaubern und Verkehrsteilnehmern, die am Eingang des Ärmelkanaltunnels blockiert werden und nicht pünktlich am Strand liegen. Dass man in der Diskussion zudem lieber nicht von „Flüchtlingen“ spricht, sondern gerne den negativ konnotierten Begriff „Migranten“ benutzt, die laut einer Zeitung „in einem Drei-Sterne-Hotel wohnen“ dürfen und das Sozialsystem ausbeuten wollen, betont die häufig fehlende Solidarität. Anfang der Woche hieß es in einer Boulevardzeitung, sieben von zehn „Migranten“ würden es nach Großbritannien schaffen. 70 Prozent von wie vielen? Solche Angaben werden sowohl in der Insel-Berichterstattung als auch in Westminster gerne vergessen zu erwähnen.

Die Krise am Ärmelkanal ist lediglich ein Teil im Gesamtpuzzle dieser humanitären Katastrophe, die sich seit Jahren in Europa abspielt – wenngleich auch ein besonders verstörender. Dieses Jahr haben laut „Guardian“ bislang mehr als 180.000 Menschen die mit den Massen überforderten Länder Griechenland und Italien auf dem Seeweg erreicht. Von ihnen schaffen es wenige bis nach Calais, davon wiederum erreicht überhaupt nur ein kleiner Teil das Königreich. In den ersten vier Monaten 2015 haben mehr als eine Viertel Million Flüchtlinge in einem der EU-Staaten Asyl beantragt. Weniger als 10.000 von ihnen gingen dem „Guardian“-Bericht zufolge diesen Schritt in Großbritannien, immerhin ein Land mit rund 64 Millionen Einwohnern. Lediglich ein paar Hundert Syrer, die vor der Tyrannei Assads und dem Terror des IS geflohen sind, fanden Zuflucht auf der Insel. Zwar durften im vergangenen Jahr 40 Prozent der Asylbewerber im Königreich bleiben. Aber es haben auch nur rund 30.000 Menschen einen Antrag gestellt – deutlich weniger als beispielsweise in Deutschland oder Frankreich.

Auch aus diesem Grund sträubt sich London vehement gegen eine Quoten-Regelung, die die Bundesregierung unterstützt. Nur sie aber könnte dafür sorgen, dass die Verteilung der Flüchtlinge in der EU gerechter abläuft. Downing Street gibt jedoch vor, dass das Flüchtlingsproblem kein britisches ist. Sollen es doch die anderen richten. Die Marine des Königreichs fischt zwar Migranten in Seenot aus dem Mittelmeer, lädt sie dann aber an der italienischen Küste ab. Cameron und Co. vergessen in ihrem Insel-Wahn, dass sie sich nicht gegen Kriminelle mit Stacheldraht, Mauern und Zäunen abschotten, sondern gegen Hilfsbedürftige ohne Stimme. Europa muss eine ganzheitliche Lösung finden, was ohne Zweifel eine große Herausforderung ist. Vielleicht die größte unserer Zeit.
Doch zuallererst wäre Mitgefühl und Menschlichkeit angebracht.

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