Goodbye Britain – and good luck!

Am 31. Januar um 23 Uhr Ortszeit, Mitternacht Brüsseler Zeit, tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. 47 Jahre hielt die Ehe, jetzt endet sie in der Scheidung.

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Für einen Moment blenden sie alles aus. Die Frustration. Die Wut. Auch die Trauer und all die Niederlagen dieser letzten, oft so bitteren dreieinhalb Jahre. Sie erheben sich von ihren Stühlen im prächtigen Saal der Londoner Westminster Central Hall, wo einst der große Kriegspremier Winston Churchill gesprochen hat. An diesem Samstagnachmittag, zum Abschluss der Konferenz des proeuropäischen Bündnisses „Grassroots for Europe“, wollen sie noch einmal, zumindest für zwei oder drei Minuten, ignorieren, was war und dafür so tun, als wäre alles anders. Und so singen die rund 600 Aktivisten zum Abschied „Ode to Joy“ aus Beethovens Neunter, lächeln beseelt und schwenken EU-Fähnchen. Ein wenig denkt man, dass es sich so begeben haben muss damals beim Untergang der Titanic, als die Bordkapelle wie zum Trotz die Katastrophe musikalisch begleitete. Wenige Tage vor dem Brexit-Tag die Europahymne anzustimmen, nur einige Meter vom ehrwürdigen Westminster-Palast entfernt, darf entweder als Ausdruck der Verzweiflung oder als so etwas wie letztes Zeichen des Widerstands auf der Insel verstanden werden. Oder als beides. Man kommt um den Gedanken nicht herum, dass die Hymne auch den Soundtrack der finalen Niederlage der pro-europäischen Bewegung in Großbritannien liefert.

Ihr Kampf ist endgültig verloren. Am 31. Januar um 23 Uhr Ortszeit, Mitternacht Brüsseler Zeit, tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. 47 Jahre hielt die Ehe, jetzt endet sie in der Scheidung. Erstmals verlässt ein Mitglied die Gemeinschaft und während Befürworter der Mitgliedschaft bislang stets für das Zurückziehen von Artikel 50 kämpfen konnten, um so den Brexit abzuwenden, ist diese Möglichkeit ab dem 1. Februar dahin. Dieser Umstand ist jedoch die einzige Sache, die sich de facto ändert. Aufgrund der zwischen London und Brüssel vereinbarten Übergangsphase bis zum 31. Dezember geht im Alltag der Menschen dies- und jenseits des Ärmelkanals alles weiter wie bisher. Immerhin, Premierminister Boris Johnson würde das Wort Brexit am liebsten aus dem Vokabular streichen. Es sei an der Zeit, mit Selbstbewusstsein in die „aufregende Zukunft“ zu blicken. In jener werde sich das Land global und wegweisend präsentieren. Ob auch Milch und Honig durch die Straßen des Königreichs fließen sollen, ließ Berufsoptimist Boris Johnson ausnahmsweise offen. Aber die meisten Menschen haben sich ohnehin längst erschöpft von der Politik und der Brexit-Saga abgewandt. Dabei handelte es sich beim ersten Akt des Dramas, so werden Experten nicht müde zu betonen, um die leichteste Übung. Die nächste Verhandlungsrunde, in der das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und EU vereinbart werden soll, dürfte sich weitaus komplizierter gestalten. Oh Dear, hört man die Briten genervt aufstöhnen. Das Interesse am leidigen Thema Brexit hat seinen Tiefpunkt erreicht.

Am Freitag werden in den europaskeptischen Zirkeln die Fanfaren ertönen, wenn auch nicht Big Ben. Zu teuer wäre es gewesen, die berühmten, wegen Renovierungsarbeiten verstummten Glocken zum Bongen zu bringen. Die Debatte um den Glockenschlag mutete absurd an. Die Hardliner in den Brexit-Reihen wetterten und schimpften und wollten Verschwörungen der Pro-EUler erkennen, weil diese ihnen angeblich ihren Unabhängigkeitsmoment nicht gönnten. Vorneweg keifte der Tory-Abgeordnete Marc Francois, der sich an diesem Donnerstagabend in einem Pub im Regierungsviertel mit Gleichgesinnten trifft. Sie nennen sich „Leavers for London“ und weil die Metropole vornehmlich europafreundlich tickt, betrachtet sich die Gruppe als so etwas wie eine verfolgte Minderheit. Die Euphorie angesichts des 31. Januars können die Damen und Herren kaum verbergen. Den Pathos ebenfalls nicht: „Ich werde nicht ins Bett gehen in dieser Nacht, sondern wach bleiben und am Morgen beobachten, wie die Sonne über einem freien Land aufgeht.“ So redet Francois wirklich. Zur großen Austrittsparty am Parliament Square soll im Übrigen nun der Big-Ben-Bong aus einem Gettoblaster ertönen. Eine halbe Million Pfund für elf Glockenschläge zu bezahlen war sogar den eifrigsten Patrioten zu teuer.

Rückblende: „Wir sind raus“, sagte der BBC-Nachrichtensprecher am frühen Morgen dieses 24. Juni 2016 und er wiederholte diesen Satz immer wieder. „Wir sind raus.“ Er klang und sah in seiner formellen Erschütterung aus, als verkünde er das Ableben der Queen. Mit diesen Worten wachte die Nation auf, den Brexit gab es zum Frühstück. Und während sich die vom Sieg überraschten EU-Skeptiker am eigenen Freudentaumel berauschten, kroch ein tauber Schmerz in die Seele der Verlierer, der Pro-Europäer, die sich voller Schock und Fassungslosigkeit immer wieder kneifen mussten angesichts des knappen Votums zugunsten der Scheidung. „Wir sind raus.“ Reporter versuchten ob des Unfassbaren die Fassung zu bewahren. Ein demokratischer Betriebsunfall? Der Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen Mary Universität in London spricht vielmehr vom „perfekten Sturm“, den das Königreich damals erlebt habe. Fünf Jahre wirtschaftlichen Stillstands hatte das Land gerade hinter sich, das Thema Migration trieb ganz Europa um und die Sorgen über Einwanderung nahmen auch in Großbritannien zu. Hinzu kamen „äußerst effektive Politiker“ wie Boris Johnson und der populistische EU-Hasser Nigel Farage, die für den Brexit warben, wenn auch nicht selten mit zurechtgestutzten Halbwahrheiten. „Das hat es der damaligen Minderheit erlaubt, die gegenüber der EU vornehmlich gleichgültig eingestellte Mehrheit zugunsten ihres Austritts-Anliegens zu bekehren.“

Premierminister David Cameron, der Architekt des Referendums und damit auch der Vater des Dramas, kündigte noch am Tag Eins seinen Rücktritt an. In den folgenden Wochen machte dann so ziemlich jeder andere einen Abgang, der noch kurz zuvor für den EU-Austritt getrommelt hatte, darunter auch der Chef-Cheerleader der Brexiteers Boris Johnson. Er gehörte zu den Protagonisten des spektakulären Wettstreits um die konservative Führung, der in seiner Schonungslosigkeit selbst Nationalheld William Shakespeare hätte erröten lassen. Mit Intrigen und einer ungeheuerlichen Skrupellosigkeit stieß sich das britische Establishment der Tories auf öffentlicher Bühne die Messer in die Rücken. Am Ende stand nur noch Theresa May. Die Frau, die zwar offiziell zu den EU-Befürwortern zählte, sich im Wahlkampf aber weitgehend zurückgehalten hatte, sollte als neue Premierministerin die Rolle der nationalen und parteiinternen Versöhnerin übernehmen. Das ging, wie man in der Retrospektive sagen darf, ziemlich daneben. Am Ende erreichte das Chaos mit der fast unausweichlichen Inthronisation des Unruhestifters und Polit-Clowns Johnson in der Downing Street seinen Höhepunkt. Die Gesellschaft zutiefst gespalten, das Land nah am Abgrund, aber immerhin, der Brexit ist durch. Er hat etliche Helden und noch mehr gefallene Helden hervorgebracht. Zu ihnen darf getrost Dominic Grieve gezählt werden. Nach 22 Jahren als treuer Tory-Abgeordneter im Unterhaus fiel er im vergangenen September der Säuberungsaktion von Johnson in den eigenen Reihen zum Opfer. Grieve war so etwas wie der Pate der 21 Rebellen, die Geschichte schrieben, indem sie der Regierung die Kontrolle über die Parlamentsagenda entrissen. Sie zwangen den Premier, eine Verlängerung der Austrittsfrist zu erbitten und verwehrten Johnson zudem Neuwahlen, die dieser per Misstrauensvotum durchdrücken wollte. Ein Machtkampf, um die ungeordnete Scheidung ohne Deal zu verhindern. Wochen später sollte dann der altlinke und umstrittene Labour-Chef Jeremy Corbyn nachgeben, „ein Akt von politischer Torheit in atemberaubendem Ausmaß“, wie Grieve es nennt. Die Konservativen unter Johnson gewannen auf dem Hard-Brexit-Ticket eine absolute Mehrheit. Nicht der kommende Freitag, sondern der Tag nach der Wahl am 12. Dezember stellt für Grieve die finale Niederlage der Bewegung der Brexit-Gegner dar. „Es gab keine Alternativen mehr zu einem Austritt am 31. Januar.“

Auf der Konferenz der Pro-Europäer bejubeln sie den verstoßenen Parlamentarier als Star, schenken ihm blaue Socken mit aufgestickten EU-Sternen. Am liebsten hätten die Teilnehmer, dass er ihnen einen Plan zurechtbastelt. Sie suchen nach Orientierung und Ideen. „Wohin jetzt mit Remain?“, lautet der Titel der Tagung. Irgendwo müssen sie doch hin, oder? Die Besucher sind aufgerufen, ihre Gefühle auf bunten Zettelchen zu beschreiben und sie auf die bereitstehenden Tafeln zu kleben. „Deprimiert“, „frustriert“, „verzweifelt“, „zutiefst traurig“, „wütend“ – die Lektüre der Antworten passt zur Trauerfeier, auf der man mit aller Macht versucht, das Wort „Wiedereintritt“ zu vermeiden. Es sei zu früh, darüber zu reden, sagt der Konferenzorganisator Richard Wilson. „Wir müssen zuerst die öffentliche Meinung ändern und eine komplett neue Kampagne starten.“ Auch Denis MacShane winkt ab. Er warLabour-Abgeordneter zu einer Zeit, die heute wie eine Ewigkeit her scheint. Als Staatssekretär für Europa saß er im Kabinett von Ex-Premier Tony Blair. In spätestens zwei Jahren, so vermutet der Brexit-Gegner, würden die Briten von der Realität eingeholt werden. Und wolle Johnson wirklich Premierminister eines Landes sein, das permanent in der Krise stecke? MacShane zuckt mit den Schultern. Niemand weiß, was kommt. Doch jetzt schon von einem Wiedereintritt in die EU zu sprechen, wäre, „als hätte Winston Churchill im Sommer 1940 die Landung der Alliierten in der Normandie angekündigt“. Alles zu seiner Zeit. Sie rechnen mit zehn bis 20 Jahren, die es dauern wird, bis man wieder auf ein EU-Mitglied Großbritannien hoffen darf. Immerhin, anders als noch vor wenigen Jahren präsentiert sich heute eine enthusiastische pro-europäische Bewegung auf der Insel, die drei Mal Hunderttausende Menschen mobilisiert hat, gegen die Scheidung zu demonstrieren. Ob das Lager ein Comeback feiern kann, das hänge sowohl von der Entwicklung des Königreichs und dessen Wirtschaft als auch vom Zustand der EU ab, sind sich alle einig. Wird Großbritannien abermals zum „kranken Mann Europas“, wie dies Anfang der 1970er Jahre der Fall war? Die Gesundung verdankte das Land dem Beitritt der EEC, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Oder könnte der Brexit entgegen aller Prognosen von Experten doch zum Erfolg werden?

Von der glorreichen Zukunft des „globalen Großbritanniens“ ist Dominic Raab überzeugt. Er war einmal Brexit-Minister undlernte immerhin unter viel Spott in diesem Amt, dass das Königreich auch geografisch eine Insel ist, der Ärmelkanal deshalb große Bedeutung für die hiesige Wirtschaft hat. Heute ist er Außenminister, trommelt im Auftrag seines Chefs für Versöhnung und hat zwei Tage vor dem Stichtag die vornehmlich europäische Presse zum Briefing geladen. Da redet er sehr viel von „noch engeren Beziehungen“ zu „unseren engen und starken europäischen Nachbarn, Partnern und Freunden“, mit denen man „sogar noch bessere und engere Nachbarn, Partner und Freunde“ sein könne nach dem Brexit. Er sagt das bestimmt 20 Mal. Und da sitzen sie vor ihm, die Journalisten, und schauen doch etwas verdutzt drein. Es waren auch sie, die sich in dieser unendlich scheinenden Saga mit all ihren Wendungen und Dramen jahrelang wie in einer Zeitschleife gefangen fühlten. Die sich von der Außenlinie aus mit der Politik im Kreis drehten. Ein Schritt vor, zwei zurück. So ging das unaufhörlich. Hunderte Stunden Parlamentsdebatten, Rücktritte, Parteispaltungen, Gezeter und Getöse, zwei Unterhauswahlen, eine Parlaments-Zwangspause, Drohungen und Demütigungen, nächtliche Abstimmungen und immer wieder Niederlagen. Das Projekt hat das Königreich schier überwältigt, sodass am Ende Johnsons Wahlversprechen „Let’s get Brexit done“, („Lasst uns den Brexit durchziehen“) für viele Briten fast wie eine Verheißung klang. Ja bitte, raus. Mach, dass es aufhört. Nun hat der Premier geliefert. In der Nacht zum Samstag ist es für das Vereinigte Königreich erst einmal vorbei in der EU.

Goodbye Great Britain – and good luck!

 

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