Keep calm and carry on?

Die Coronavirus-Krise hat auch London im Griff. Von einem Stillstand ist die Stadt jedoch noch weit entfernt. Die Unbeschwertheit vieler Briten macht fassungslos.

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Ich lebe in Brixton, einem, manche würden sagen, hippen und relativ zentralen Viertel im Londoner Süden. Auf dem Markt und insbesondere vor der U-Bahnstation fühlt man sich stets wie auf dem Jahrmarkt. Es wuselt und brummt und lärmt und riecht tagsüber nach einer Mischung aus Abgasen der Doppeldeckerbusse und Blüten vom nahen Blumenstand; nachts wabert der Geruch von frischen Hotdogs durch die Luft, die vor der Station gebraten werden. An schlechten Tagen kann das alles nerven. An guten Tagen ist es ein Geschenk. Man fühlt sich lebendig, am Puls der Zeit in dieser so wunderbaren Weltstadt, die sich immer bewegt, immer überrascht, immer fasziniert. Es wuselt und brummt und lärmt noch immer, wenn auch wegen der Coronavirus-Krise deutlich weniger als sonst. Und man stellt sich die Frage: Kann London überhaupt komplett zum Stillstand kommen?

In einem Gruppenchat mit vier Freunden wurde vor wenigen Tagen diskutiert, wo man sich am Abend treffen wolle. Geplant war seit längerem ein Dinner im Stadtteil Soho, im Herzen Londons. Hier im Ausgehviertel West End reiht sich neben Restaurants, Bars und Pubs ein Theaterhaus an das nächste. Stets tummeln sich Massen von Touristen durch die von funkelnden Lichtern und bunten Schildern erleuchteten Straßen. Nun sind deutlich weniger Menschen unterwegs, die Theater haben geschlossen. Es handelte sich um eine eigenverantwortliche Entscheidung. Premierminister Boris Johnson hatte der Bevölkerung lediglich empfohlen, keine Aufführungen oder Konzerte mehr zu besuchen. Drastische Maßnahmen von Seiten der Regierung? No. Not yet. Immerhin ist London von der ursprünglichen Strategie abgekommen, nach der man eine sogenannte Herdenimmunität aufbauen und deshalb nur die Risikogruppe in Quarantäne schicken wollte. Mittlerweile folgt man dem Vorbild der Kontinentaleuropäer. Die Schulen schließen Ende dieser Woche.

Endlich stünden die Chancen gut, einen Tisch bei diesem neuen Taiwanesen zu bekommen, freut sich im Chat derweil Freund M., zwei Smileys folgen. Freund R. fragt: „Wollen wir davor noch gemeinsam ins Fitnessstudio?“ Ich frage: „Seid ihr eigentlich des Wahnsinns?“ Das Motto „Keep calm and carry on“ haben die Briten nicht nur während des Zweiten Weltkriegs erfunden, sondern in den vergangenen Jahrzehnten auch perfektioniert. Zurzeit beherzigen es zu viele Menschen in der Metropole, die vom Virus ausgehende Gefahr wird nicht ernst genug genommen. Zwar sind auch in London die Regale der Supermärkte leergeräumt und die Ängste angesichts der steigenden Zahlen von Infizierten und Toten nehmen zu. Nur tauscht man seine Sorgen allzu häufig noch im Kreise von Kollegen und Bekannten beim Pint Bier im Pub. Es herrscht in manchen Kreisen der Gesellschaft ein Gefühl der Unverwundbarkeit, das mich fassungslos zurücklässt.

Die Laissez-faire-Haltung der Regierung und ein Mann in der Downing Street, der gerne den Clown spielt, sind keine großen Hilfen. Medienberichten zufolge hat Johnson diese Woche bei einer Telefonkonferenz mit einigen Unternehmenschefs gescherzt, das Unterfangen, mehr lebensrettende Beatmungsgeräte herzustellen, könnte man als „Operation Letzter Atemzug“ bezeichnen. Das geht selbst bei den Engländern nicht mehr als schwarzer Humor durch.

Die Tube ist trotzdem deutlich leerer als sonst und hat deshalb auf einen Wochenend-Betrieb umgestellt. In der Praxis heißt das: Die U-Bahn kommt nicht mehr alle zwei, sondern alle drei bis vier Minuten. Krisenmodus im London-Stil. Doch die Neun-Millionen-Metropole ist flächenmäßig riesig, ohne U-Bahn sitzt man fest. Ich nutze seit Tagen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr und falls ich derzeit doch Erledigungen machen muss, gehe ich meistens zu Fuß, ein Auto hat hier kaum jemand. Gestern musste ich ein Paket bei einem Bekannten abholen: 132-Minuten-Spaziergang hin. Und ein Taxi zurück.

All das verlangsamt den Alltag, ohne wirkliche Probleme zu schaffen, da alle Termine ohnehin abgesagt sind. Eigentlich sollte diese Woche die nächste Runde der Verhandlungen zwischen dem Königreich und der EU über die künftigen Beziehungen nach dem Brexit beginnen. Verschoben. Man mag es kaum aussprechen oder besser ausschreiben, aber ein bisschen vermisse ich den Brexit. Er kostete Nerven, aber keine Menschenleben.

Eine befreundete Ärztin und ich telefonieren dieser Tage häufig. A. arbeitet für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS, eine heilige Kuh auf der Insel. Doch ihre Schilderungen über fehlende Ausrüstung oder den Mangel an Personal sind gruselig. Selbst Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern werden wie auch der Rest der Bevölkerung kaum getestet, wenn sie für das Coronavirus typische Symptome wie Husten oder Fieber zeigen. Sie werden nach Hause geschickt. Selbst-Isolation für 14 Tage, so die Anweisung. „Das System steht jetzt schon kurz vor dem Kollaps“, sagt die Allgemeinmedizinerin und verweist auf die beängstigende Statistik, dass je 100.000 Einwohner nur 6,6 Betten auf Intensivstationen zur Verfügung stehen. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es pro 100.000 Menschen 29,2 Betten. Es ist ein unterfinanziertes Gesundheitswesen, das auch ohne Coronavirus jeden Winter keucht. „Uns droht eine absolute Katastrophe“, sagt A. Ich lege auf und mir ist ein bisschen übel.

 

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