Zahlreiche Einwanderer im Vereinigten Königreich müssen zurzeit viel Diskriminierung ertragen. Die anhaltende, zum Teil aggressiv geführte Migrationsdebatte hinterlässt ihre Spuren in der britischen Bevölkerung. Dabei werden die Zuwanderer aus Osteuropa auf der Insel gebraucht.
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Es ist ihr erster Arbeitstag im polnischen Café Maya. Barbara Halimeh wuselt durch die Reihen und räumt das klirrende Geschirr ab. Mit einem Putzmittel sprüht sie die alten Holztische ein, auf denen sich Jahrzehnte alte Glasränder und Flecken hartnäckig festgesetzt haben. Sie reinigt mit einem Lappen die Oberflächen, auch wenn sich der 80er-Jahre-Mief nicht wegwischen lässt. Barbara Halimeh kümmert das wenig. Sie wirkt, als tanze sie in ihren schwarzen Ballerinas mit den aufgenähten glitzernden Steinen durch das Restaurant mit seinen vergilbten Vorhängen und abgeramschten Stühlen. „Ich bin glücklich“, sagt die 40-Jährige. Heute.
Sie lebt und arbeitet im Londoner Stadtteil Hammersmith, in dem sich viele polnische Klempner und Kfz-Werkstätten angesiedelt haben. Zahlreiche Restaurants bieten auf der Menükarte ihre Gerichte wie Flaki, ein Kuttelgericht, und gefüllte Teigtaschen, sogenannte Piroggen, auf Englisch und Polnisch an. An den Schaufenstern einiger Läden kleben Ankündigungen von Veranstaltungen, zu denen Künstler aus der Heimat einladen. Es ist ein typisch multikulturelles Viertel in Englands Hauptstadt, doch seit rechtspopulistische Politiker und konservative Medien ihre Leidenschaft für aggressive, teilweise unverhohlen fremdenfeindliche Kampagnen entdeckt haben, ist nichts mehr wie es war. Die polnischen Einwanderer ducken sich weg – vor den Schlagzeilen und den Umfrageergebnissen, die besagen, dass mittlerweile 77 Prozent der Briten weniger Ausländer ins Land lassen wollen. Mehr als die Hälfte wünscht sich aus Angst vor einem massiven Ansturm aus Osteuropa auf die britischen Sozialsysteme sogar „viel weniger“.
Barbara Halimeh lächelt schüchtern. „Mir ging es nie um die Sozialhilfen“, sagt sie und ihre Goldohrringe schimmern durch die blond gefärbten Haare. „Ich wollte einfach wieder ein Leben haben.“ Die 40-jährige Polin wanderte vor drei Jahren nach Großbritannien aus. Ihr Sohn war erwachsen und in ihrer Heimatstadt Bialystok hatten sich alle Türen, die in eine bessere Zukunft führen könnten, geschlossen. Sie arbeitete zuletzt in drei Jobs, kam manchmal nur für drei bis vier Stunden nach Hause um etwas zu schlafen, dann ging sie wieder zur Arbeit. In guten Monaten verdiente sie damit umgerechnet 600 Euro. Also machte sich Barbara Halimeh allein auf ins Vereinigte Königreich und landete im noblen Londoner Stadtteil Chelsea bei einer wohlhabenden Familie, für die sie sich um den Haushalt kümmerte und das behinderte Kind betreute. Dafür erhielt sie Kost, Logis und ein kleines Taschengeld, aber noch viel wichtiger war: Sie lernte Englisch. Heute arbeitet sie wieder – wie in Polen – in der Gastronomie. Mit dem Unterschied, dass sie mit einem Job so viel verdient wie in ihrer Heimat mit drei.
Menschen wie Barbara Halimeh meinen sie also, die britische Boulevardpresse, die seit einigen Wochen in schrillen Lettern vor einer feindlichen Invasion des Königreichs warnt. Oder jene aufgeschreckten Politiker in Westminster, die täglich neue Vorschläge herausposaunen, wie die Insel vor einem weiteren Einwanderungsschub aus Rumänien, Polen oder Bulgarien bewahrt werden könnte. Premierminister David Cameron hat strengere Arbeitsgesetze und eine Beschränkung auf jährlich 75000 Einwanderer aus der EU angekündigt. Er will zudem ihre Rechte begrenzen, indem Sozialhilfe lediglich von jenen beantragt werden darf, die bereits drei Monate im Land sind. Erst vor wenigen Tagen wurde beschlossen, dass ab April dieses Jahres arbeitslose Migranten keinen Wohnzuschuss mehr erhalten, wenn sie ins Vereinigte Königreich ziehen. Sie bekommen auch nur noch dann länger als sechs Monate staatliche Fördermittel, wenn sie „echte“ Chancen auf eine Stelle haben. „Wir stellen sicher, dass Einwanderer nicht mehr unfair von unserem System profitieren können“, schrieben Innenministerin Theresa May und Arbeitsminister Iain Duncan Smith in einem Gastbeitrag einer britischen Zeitung. Darüber hinaus, so der Plan, sollen Einwanderer schwierigere Sprachtests bestehen und einen umfangreichen Fragenkatalog beantworten können.
Wer die Prüfungen nicht besteht, kommt nicht auf die Insel. Dabei, das ergab eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation, haben weniger als zwei Prozent aller EU-Zuwanderer seit 2010 britische Arbeitslosenhilfe beantragt. Die entfachte Diskussion führt aber an solchen Fakten vorbei, bietet das Thema doch allerlei Symbolwert. Camerons Kurs ist derweil eine radikale Kehrtwende. Noch im Jahr 2004 reagierte London mit einer liberalen Einwanderungspolitik auf die EU-Osterweiterung. Wer kommen wollte, durfte kommen. Anders als etwa Deutschland haben die Briten keine langen Übergangsfristen für die neuen EU-Staaten vereinbart. Als „monumentalen Fehler“ bezeichnet der Premier heute dieses Vorgehen. Er vergisst dabei, dass die schwächelnde Wirtschaft von den arbeitswilligen Osteuropäern profitiert hat. Obwohl es anstatt der erwarteten 30 000 rund 400 000 Menschen auf die Insel zog, sank die Arbeitslosenquote aufgrund des Aufschwungs. Dass Politiker wie David Cameron nun auf einmal fordern, die Freizügigkeit von Menschen aus weniger wohlhabenden EU-Ländern einzuschränken, hinterlässt auch deshalb Fragezeichen, weil Rumänen und Bulgaren nicht erst seit Anfang des Jahres, sondern bereits seit 2007 nach Großbritannien kommen konnten.
Die neuen Vorstöße aus der Downing Street 10 liegen zum einen an den jüngsten Zahlen, nach denen die Nettoeinwanderung zwischen Juni 2012 und Juni 2013 auf 182 000 gestiegen ist. Doch vor allem beruhen die hektisch angekündigten Schritte der Regierung auf der Furcht der Konservativen vor den steigenden Beliebtheitswerten der britischen Unabhängigkeitspartei (Ukip), die bei den Europawahlen im Mai erstmals als stärkste Kraft abschneiden könnte. Deren Chef, Nigel Farage, forderte kürzlich, fünf Jahre lang nur noch gutausgebildeten Arbeitern aus anderen Ländern eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren. Er will schnellstmöglich aus der Europäischen Union austreten und würde die Einwanderung selbst dann begrenzen wollen, wenn ökonomischer Schaden entstünde. „Es gibt wichtigere Dinge als Geld, nämlich den Zustand unserer Gesellschaft und die Arbeitschancen unserer eigenen Jugend“, sagte Farage. „Wir müssen komplett verrückt sein, wenn wir Menschen aus Osteuropa Arbeitnehmerhilfen gewährleisten.“
Daniel Chira verzieht das Gesicht, wenn er solche Aussagen hört. Perfekt rasiert verbringt der 33-Jährige in beiger Hose, kariertem Hemd und blauem Jacket seine Mittagspause in einem Café im nördlichen Stadtbezirk Haringey, wo sich aufgrund der etwas günstigeren Mietpreise besonders viele Rumänen und Bulgaren im Supermarkt treffen. Chira trägt eine randlose Brille und Gel in den Haaren. Mit seinem starken britischen Akzent fällt er in Großbritannien nur auf, weil er Frauen in den Mantel hilft und Rosensträuße zum Geburtstag verschenkt. Er ist Rumäne und damit Gegenstand der anhaltenden Debatten über Migranten aus ärmeren EU-Staaten. „Es ist eine politische Kampagne, die gerade gefahren wird“, sagt er. Er lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Seine Worte klingen unaufgeregt, dabei ist er wütend. Denn er musste selbst den typisch holprigen Einwandererweg gehen. Im Jahr 2005 kam der Klassenbeste seiner Universität in der rumänischen Stadt Temeswar mit Hilfe eines Stipendiums nach Großbritannien. Er beendete seinen Master in Bioethik und freute sich darauf, endlich die Früchte seiner Ausbildung ernten zu können.
Einige Monate nach seinem Abschluss fand er sich in einem der Hochhäuser im Bankenviertel der Londoner City wieder. Doch er trug keinen Anzug, sondern einen Bauhelm. Anstatt am Schreibtisch zu sitzen, zerstörte er mit einem Presslufthammer das Fundament von zum Abriss freigegebenen Häusern. Sechs Monate lang schuftete der Akademiker auf der Baustelle für anfangs umgerechnet knapp 50 Euro am Tag. Ein britischer Arbeiter verdiente etwa doppelt so viel. Währenddessen bewarb sich der ehrgeizige Migrant auf rund 200 Stellen, viele Vorstellungsgespräche folgten. Doch sein rumänischer Pass ließ die Unternehmen zurückschrecken. „Manche waren höflich und riefen einfach nicht mehr an. Andere sagten ganz direkt: Du bist Rumäne, wir wollen dich nicht“, erinnert er sich. „Einmal meinte sogar ein Chef: Wir nehmen keine Leute aus Osteuropa, geh am besten zurück.“ Zahlreiche Negativschlagzeilen hinterlassen selbst in einigen Personalabteilungen ihre schmuddeligen Spuren.
Schlussendlich wurde Daniel Chira bei einer Zeitung der rumänischen Diaspora als Marketingmanager angestellt, wo er bis heute arbeitet. Seine Londoner Anfangszeit hat jedoch Narben hinterlassen, noch immer bereitet es ihm Missbehagen, wenn er gefragt wird, woher er ursprünglich stammt. Zumal die Diskriminierung gegenüber Migranten aus osteuropäischen Ländern in den vergangenen Monaten zugenommen habe, berichtet er.
Dabei sind viele Branchen im Königreich abhängig von Zuwanderern – beispielsweise das Gesundheitswesen, die Baubranche und der Finanzsektor, sagt Jonathan Portes, Leiter des National Institute of Economic and Social Research in London. „Auf lange Sicht profitieren wir von Immigration.“ Ein Angebot an Menschen, die im Großen und Ganzen bereit seien zu arbeiten, wirke sich positiv auf die Wirtschaft aus – sowohl im Niedriglohnsektor als auch im hochqualifizierten Bereich.
„Wir bezahlen Steuern, das Sozialsystem zieht einen Nutzen aus uns“, pflichtet ihm Daniel Chira bei. Hinzukomme, dass sich Osteuropäer nicht zu schade seien, sich die Hände schmutzig zu machen. Dass er auf einer Baustelle rackerte und seine Schwester als studierte Psychologin jahrelang Toiletten putzte, sei weniger ein Zu- als Normalfall. „Man muss sich in einem neuen Land erst eingewöhnen, die Sprache lernen und die fremde Kultur verstehen lernen“, erklärt er den Grund, warum viele Osteuropäer, selbst mit Universitätsabschluss, in einfachen Jobs in Großbritannien starten. Das Argument vieler Rechtspopulisten, Rumänen oder Polen würden einheimischen Kräften die Arbeit wegnehmen, lässt er nicht gelten. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Briten diese Tätigkeiten machen würden.“ Doch in Zeiten, die niemand mehr als rosig beschreiben würde und in denen Arbeitsplätze rar sind und Sparsamkeit großgeschrieben wird, geben arme Einwanderer einen leichten Sündenbock ab.
Daniel Chira ist in London angekommen. Vor kurzem hat er sogar eine Wohnung gekauft. Zurück nach Rumänien will er auf keinen Fall, seine Kinder sollen mit anderen Perspektiven aufwachsen als er sie hatte. Auch Barbara Halimeh denkt nicht über eine Rückkehr nach Polen nach. Sie will demnächst heiraten.
Beide Zuwanderer hoffen, dass sich die britischen Medien beruhigen, die Politiker durchatmen und die schwarzmalerische Stimmung bald umschlägt, damit Großbritannien wieder zu jener weltoffenen Gesellschaft wird, von der sie damals in ihren Heimatländern so viel gelesen haben.