Politische Zeitenwende

Douglas Carswell

Noch vor einigen Monaten war die EU-feindliche Unabhängigkeitspartei Ukip eine Randerscheinung der britischen Politik. Diese Woche könnte mit dem Tory-Abtrünnigen Douglas Carswell der erste Ukip-Abgeordnete ins Parlament gewählt werden.

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Während auf dem Pier Michael Jacksons Stimme aus den krachenden Lautsprechern dröhnt, Karussellpferde und Autoscooter auf Kunden warten und die Automaten in der Spielhalle durcheinander blinken und dudeln, sitzen drei ältere Damen nur wenige Meter entfernt bei einer Tasse Tee am Meer. Am Horizont drehen sich die Flügel Dutzender Windräder. Doch die Idylle in der Küstenstadt Clacton-on-Sea im Südosten Englands bleibt an der Oberfläche. „Dieser Mann ist ein Verräter“, rufen die Frauen aufgeregt und zeigen auf einen gelb-lilafarbenen Flyer, auf dem „Es ist Zeit für einen Wandel“ steht. Dieser Mann, das ist Douglas Carswell und der Politiker wirbelt Westminster auf, seit er vor wenigen Wochen von den konservativen Tories zur europafeindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip überlief. Nachdem sich der 43-Jährige dazu entschied, von seinem Mandat zurückzutreten und sich in seinem alten Wahlkreis in Clacton, keine eineinhalb Sunden von London entfernt, eigens als Ukip-Kandidat zur Nachwahl zu stellen, steht den rund 65.000 Stimmberechtigen am Donnerstag eine richtungsweisende Entscheidung bevor. Die aktuellen Umfragen deuten an, dass Carswell, immerhin neun Jahre für die Tories in Westminster, die Nachwahl gewinnt und als erster Ukip-Abgeordneter ins Parlament einzieht.

In seinem kleinen Büro stapeln sich Pakete voller Werbebriefe, eine Horde Journalisten wartet auf ein Statement von ihm. Ein Sieg Carswells würde die politische Landschaft der Insel verändern – das stellt vor allem für die Konservativen ein Problem dar. Premierminister David Cameron fürchtet seit Monaten, Wähler an die EU-Hasser zu verlieren, aufgrund des wahrscheinlichen Ukip-Einzugs ins Unterhaus sowie Kritiker der eigenen Partei gerät er weiter unter Druck. Douglas Carswell war ein Leben lang Konservativer, „durch und durch“, wie er sagt, genauso wie er stets als EU-Skeptiker in den konservativen Reihen eingeschrieben war. Anfang des Jahres begannen die Zweifel an ihm zu nagen. „Der Wechsel war eine schwierige Entscheidung für mich“, sagt er. Die Richtung der Tories behagte ihm jedoch immer weniger. „Keine der im Jahr 2010 versprochenen politischen Reformen wurden umgesetzt.“ Hinzu kommt die Europa-Frage. „Wir sollten die EU verlassen und das glücklichste und erfolgreichste Land außerhalb der Union sein.“ Er lehne Immigration nicht grundsätzlich ab. Carswell, im afrikanischen Uganda aufgewachsen und in Kenia zur Schule gegangen, sei lediglich gegen „unkontrollierte Einwanderung“. Eine fundamentale Änderung der britischen Politik könne lediglich die Ukip herbeiführen. „Alles, was Cameron tut, macht er mit Blick darauf, die Wahlen 2015 zu gewinnen.“ Zustimmung findet Carswell bei einer Gruppe älterer Männer, die bereits seit einer Stunde vor dem Wahlbüro warten und ihre Meinung von dem Politiker abgenickt bekommen wollen. Der Engländer Ken Priest ist 70 Jahre alt, stützt sich auf einen Stock, doch seine Augen funkeln. „Wir leben nicht mehr in einer Demokratie“, schimpft er über die EU. Jobs würden nicht in Brüssel geschaffen. Vielmehr müsse man weltweit Handel betreiben. Und überhaupt, flucht er sich in Rage, „wir müssen wissen, wer hierher kommt und warum“. Eine Parole, die für Parteichef Nigel Farage und seine Anhänger nicht oft genug wiederholt werden kann. Die populistischen Behauptungen finden nachhaltigen Anklang in der Seele des Königreichs. „Es ist keine rassistische Partei“, versichert Ken Priest und verweist auf seine „netten“ polnischen Nachbarn. „Aber wir können mit dem Ausmaß, mit dem sich Großbritannien innerhalb kürzester Zeit verändert hat, nicht mithalten. Unser Gesundheitsdienst verkommt und den Briten fehlt Arbeit.“ Dabei fiel erst kürzlich Cameron sein Versprechen auf die Füße, die Einwanderung zu bremsen. Dem staatlichen Statistikamt ONS zufolge ist die Zahl der Netto–Immigranten im Vergleich zum Vorjahr um mehr als ein Drittel gewachsen. 243.000 Menschen kamen in den zwölf Monaten bis Ende März 2014 über den Ärmelkanal.

Die drei Damen diskutieren beim Nachmittagstee noch immer Douglas Carswell. „Er ist nett, aber das hätte er nicht tun sollen“, verurteilen sie seinen Wechsel zu Ukip, acht Monate vor der Parlamentswahl. Sie werden den Konservativen treu bleiben. „Nur gegen die EU und Immigration zu sein, ist nicht genug, um uns umzustimmen.“ Es gebe größere Probleme in Großbritannien. Gleich um die Ecke klappert ihr Tory-Kandidat Tür für Tür ab, um in den wenigen Wochen Wahlkampf, die ihm blieben, so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Um das Thema Europa windet er sich und verweist lieber auf das In-Out-Referendum, das Cameron angekündigt hat, sollte er nächstes Jahr wiedergewählt werden. „Ich fühle mich wie im Auge des Sturms“, sagt Giles Watling. Doch der richtige Orkan könnte erst noch aufziehen – dann, wenn Douglas Carswell tatsächlich als erster Ukip-Abgeordneter ein Mandat im Parlament erringt.

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