Old School in der Tube

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Es gibt sie doch noch: Bücher lesende Menschen. Noch bevor sich die Türen der Londoner Underground schließen und aus den Lautsprechern „Mind the gap“ tönt, ziehen viele einen Krimi oder Liebesroman, einen Ratgeber oder Fachbuch aus der Tasche. 

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Hat London das wirklich völlig verschlafen? Bücher sind tot! Das gedruckte Wort hat abgedankt! Kein Mensch liest mehr Geschichten auf Papier! Ist das nicht auf die Insel durchgedrungen? Möchte man Absatzzahlen, Blogs und Medien glauben, sind Bücher etwas aus dem letzten Jahrhundert. Und dann das: In Europas hippster Metropole ist die Underground voll mit lesenden Menschen. Täglich, stündlich, minütlich schlucken Hunderte Tube-Stationen Tausende von Menschen. Und spucken sie wieder aus. Sie bringen sie von Nord nach Süd, von zu Hause zur Arbeit, vom Shopping in den Pub. Es gibt kaum einen Londoner, der nicht einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens unter der Stadt verbringt.

Irgendwann müssen all diese Menschen gedacht haben: Das ist viel Zeit zum Lesen, wozu man sonst so selten kommt. Und während man zur Stoßzeit dicht gedrängt in stickigen Bahnen sitzt und steht, kann man wenigstens in eine Phantasiewelt entfliehen. Oder nutzen einige der Leseratten das Buch nur als Schutzschild in der anonymen Untergrundwelt? Was auch immer die Gründe sein mögen, verwunderlich ist doch, dass ich noch kein einziges Kindle entdeckt habe. Vielmehr herrscht eine Renaissance des Totgeglaubten.

Noch bevor sich die Türen der Bahn schließen und aus den Lautsprechern „Mind the gap“ tönt, ziehen viele von jenen, die nicht an ihrem Smartphone herumfummeln, aus ihren Hand- und Jackentaschen Schmöker, Ratgeber, Liebesromane. Schlagartig sind sie versunken in phantasievollen Geschichten, die von anderen Städten und Ländern, anderen Lebenswelten und Menschen, anderen Zeiten und Umständen erzählen.

Tube Buch

Nur allein diese volle Konzentration auf ein paar Seiten Gedrucktes inmitten Dutzender Fremder zu sehen, lässt mich etwas heimischer fühlen. Bücher sind nicht tot. Sie machen glücklich.

Natürlich darf nun auch in meiner Tasche nie ein Buch fehlen. Derzeit ist es, passend zu meiner Anfangszeit in London, eine Gebrauchsanweisung für Englands Hauptstadt. Ich habe überlegt, ob sie nötig ist. Zum einen steht nirgendwo das Wort „Schirm“ (siehe voriger Artikel). Zum anderen muss man sich in London eigentlich nur treiben lassen und die Augen offen halten. Ich werde sie trotzdem fertig lesen. Dank der Tube wird das nicht mehr lange dauern.

Nachtrag: Nicht ALLE Underground-Benutzer lesen. Viele. Einige. Mehr als anderswo. Aber vielleicht entspringt die Vorstellung von einem Waggon, in dem alle in ein Buch versunken sind, meiner Phantasiewelt: Eine Bahn voller Geschichten.

1 Kommentar

  1. Hallo Katrin,
    deine Geschichte ist wunderbar zu lesen..ich hoffe du hast ínzwischen auch ohne „Gebrauchsanweisung“ zu einem Regenschirm gefunden. 🙂
    Gruß deine mum

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