Schwarz-weiße Welt

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Wer den Jerusalemer Stadtteil Me’a Sche’arim besucht, taucht ein in eine andere Welt. Hier leben die ultra-orthodoxen Charedim. Die Diskussionen um ihren Lebensstil und ihre Privilegien spalten Israels Gesellschaft.

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Die Verbotsliste im Jerusalemer Stadtteil Me’a Sche’arim ist lang: Nicht fotografieren! Keinen kurzen Rock, als Frau auch keine Hose, kein Oberteil mit Ausschnitt, überhaupt kein kurzärmeliges oder gar Träger-Oberteil tragen! Frauen sollten Männern nicht direkt in die Augen schauen! Arm in Arm oder Hand in Hand durch die Gegend zu schlendern, ist ein Tabu! Wer sich über die Regeln hinwegsetzt, muss mit Beschimpfungen rechnen, schlimmstenfalls wird er oder sie mit Steinen beworfen.

In Me’a Sche’arim ist die Zeit stehen geblieben. Es muss irgendwann im 19. Jahrhundert gewesen sein, als die Ultra-Orthodoxen ihr Denken und Handeln konservierten und unverändert über die Jahrzehnte bis ins Jahr 2013 brachten.

Die schwarzberockten Männer wirken immer als wären sie gerade auf der Flucht. Ihre Schläfenlocken wippen im Rhythmus ihrer Schritte. Mit Büchern unter dem Arm hasten sie zur Religionsschule, ihrem Lebensmittelpunkt.
Das alte Viertel ist eine eigene Welt innerhalb der Stadt. Wie durch eine unsichtbare Mauer schotten sich hier die Charedim, die Gottesfürchtigen wie sich diese Gemeinschaft ultra-orthodoxer Juden selbst nennt, von der modernen Welt ab. Ihre ist patriarchalisch, restriktiv und fundamentalistisch.

Das war immer so und soll auch so bleiben. Die Menschen sprechen jiddisch und leben ohne Fernsehen, Radio oder Zeitungen – mit dem einzigen Zweck, sich vor jeglichem äußeren Einfluss zu verschließen. Viele sind zudem Anti-Zionisten, das heißt, sie lehnen einen weltlichen jüdischen Staat ab. Alles, was die Ultra-Orthodoxen zum Leben brauchen, steht im Talmud. Der Talmud ist eines der bedeutendsten jüdischen Schriftwerke und obwohl er keine Gesetze beinhaltet, zeigt er den Juden wie die Regeln der Thora im praktischen Leben umgesetzt werden sollen.

Wenn es in Israel um die Charedim geht, gehören seit einigen Jahren heftige Debatten zum Alltag. Keiner hat mehr keine Meinung. Unter vielen säkularen Israelis ist es derzeit Mode, über die Männer mit ihren großen schwarzen Hüten zu schimpfen. Lauthals und wutentbrannt. Das ist leicht, geben die Ultra-Orthodoxen doch dankbare Sündenböcke ab. Immerhin werden sie im Gegensatz zu allen anderen Israelis, die nach ihrem Schulabschluss zwei bis drei Jahre der Armee dienen müssen, nicht zum Militärdienst eingezogen. Dafür gründen sie große Familien. Sieben, acht oder gar zehn, elf Kinder sind weniger die Seltenheit als die Regel. Fruchtbar zu sein gilt in ihrer Gemeinschaft als göttliches Gebot und Familienplanung als Eingriff in Gottes Plan. Auch Steuern zahlen die streng religiösen Juden nicht. Im Gegenteil: Die Gottesfürchtigen erhalten Sozialhilfe vom Staat.

Die gesellschaftliche Kluft zwischen den Säkularen sowie moderaten Juden und den Ultra-Orthodoxen wird deshalb immer größer. „Was tun sie für Israel?“, fragt Mai verärgert. Die 26-jährige Musikstudentin findet das System unfair und ist wütend auf die Politik, die nichts gegen die Charedim unternimmt. Dabei wurde das Thema Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe in den vergangenen Jahren bereits mehrfach von Gerichten und Politikern behandelt. Bis auf hitzige Debatten ist jedoch nichts herausgekommen.

Zurzeit machen die Charedim knapp zehn Prozent der Bevölkerung Israels aus. Von ihnen leben etwa 60 Prozent unter der Armutsgrenze. Sie wollen es nicht anders, materielle Dinge sind ihnen egal. Die Mehrheit der Männer arbeitet nicht, sondern widmet sich dem Thorastudium und dem Gebet. Dafür arbeiten die meisten ihrer Ehefrauen – ein Kraftakt neben dem Führen des Haushalts und der Betreuung zahlreicher Kinder. Auch das kritisieren säkulare Israelis: „Die Frauen machen alles und die Männer lehnen sich zurück und beten“, sagt Mai.

„Wir sollten die Ultra-Orthodoxen respektieren. Sie sind Teil unserer jüdischen Gesellschaft“, findet dagegen Adi. Die 32-jährige Israeli kennt die Argumente der Kritiker und ruft doch zu mehr Toleranz auf. „Wie sollen die Charedim mit ihren Regeln beim Militär bestehen?“, fragt sie. Alle religiösen Bräuche und Feiertage mit fundamentalistischer Strenge einzuhalten, erfordert viel Zeit. In der Armee würden zwei Welten aufeinandertreffen, die nicht zusammen passen.

Zudem seien sie eine Bereicherung für die jüdische Gesellschaft. Für Jerusalem. Für Israel. „Es ist spannend“, sagt sie, während sie durch Me’a Sche’arim schlendert. Alte Pappkarton-Fetzen, festgetreten von den blank polierten Lederschuhen der Charedim, liegen auf den Gehsteigen und Gemüsereste vergammeln auf den Straßen. Das Viertel wirkt arm, die Menschen nicht. Aber ihr Reichtum ist in unserer Welt nichts wert.

Die Studentin Mai wohnt im Jerusalemer Stadtzentrum, nur einige hundert Meter entfernt von Me’a Sche’arim. Sie war noch nie da und eigentlich, sagt sie, habe sie auch keine Lust hinzugehen.

3 Kommentare

  1. Tolle Berichte! Es ist, als wäre man selbst dabei… Danke, liebe Katrin, dass du uns die kleinen Geschichten, die sonst keiner kennt, erzählst!
    Pass auf dich auf!

    Liebste Grüße
    Nadine

  2. Liebe Katrin,
    Vielen Dank für deine wundervollen und interessanten Geschichten. Mit deinen kurzweiligen und erfrischenden Erzählungen über deine Erfahrungen in diesem politisch&kulturell sehr interessanten Land bereicherst du unseren Alltag. Es ist toll, dass und wie du uns an deinen Eindrücken teilhaben lässt. Wir freuen uns immer sehr auf neue kapstories aus Israel. Liebe Grüße von deinen Stuttgartern Mellie & David

  3. Hallo meine liebste Katrin,
    es ist wunderbar deine Geschichten zu lesen. Man taucht ein in eine andere Kultur.
    Freu mich über jede neue Erzählung von dir. Weiss dann auch, dass es dir gut geht.
    Weiter so…Kuss deine Mum

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